Das Boese in uns
meine?
Das erkläre ich in unserer nächsten Diskussion: Die Natur der Wahrheit, die eine Lüge verbirgt - am Beispiel von Lisa/Dexter Reid.«
Abblende, das Bild wird schwarz.
»Heilige Scheiße«, sage ich.
»Warte ab«, sagt Alan grimmig. »Es kommt noch schlimmer.«
Er klickt auf das nächste Mini-Bild. Ich betrachte den Clip und kämpfe gegen das flaue Gefühl an, das in meinem Magen aufschäumt.
Erneut die Hände, die den Rosenkranz halten. Sie haben sich nicht bewegt, seit wir uns die Clips anschauen.
»Lisa Reid wurde als Dexter Reid geboren, Sohn von Dillon Reid und seiner Frau Rosario. Dexter wurde unzufrieden mit dem Körper, den Gott ihm gegeben hatte, und beschloss, ihn zu verändern in dem Versuch, eine Frau zu werden.
Alle werden darin übereinstimmen, dass dies eine Ungeheuerlichkeit ist, die gegen den Willen des Herrn verstößt. Doch genau an diesem Beispiel, an dieser fehlgeleiteten Seele, können wir höchst lebendig das Phänomen der Wahrheit illustrieren, die eine weitere Lüge verbirgt. Dieses Phänomen funktioniert folgendermaßen: Eine Person enthüllt ein großes Geheimnis, eine schwere Sünde, eine schlimme Lüge. Es erfordert Mut, dazu zu stehen, und es verschafft dem Bekennenden sowohl Erleichterung als auch Bewunderung seitens seiner Umwelt. Er wird gelobt dafür, endlich mit der Wahrheit ans Licht gekommen zu sein. All das mag schön und gut sein ... sieht man davon ab, dass es meist noch ein dunkleres, tieferes, unbekanntes Geheimnis darunter gibt.
Verstehen Sie? Indem man eine große Sünde enthüllt, befreit man sich von dem Verdacht, dass es noch eine weitere Sünde geben könnte. Wir sehen, dass der Betreffende die Wahrheit sagt, und wir weinen Tränen der Erleichterung mit ihm und wünschen, wir hätten die gleiche Charakterstärke, den gleichen neu gefundenen Mut und die gleiche Tugend. Doch ohne dass wir es ahnen, bleibt eine andere, viel größere Sünde ungesehen.
Das ist es, was ich meinte, als ich sagte, dass Wahrheit kein Streben, kein Weg, sondern eine augenblickliche Ankunft ist. Man gelangt entweder auf einen Schlag zur ganzen Wahrheit, oder überhaupt nicht. Es gibt keinen halben Weg zu Gott. Man ist entweder bei ihm oder nicht.
Aus Dexter Reid wurde Lisa Reid. Und er enthüllte gegenüber der Welt sein Geheimnis - den Wunsch, eine Frau zu werden. Er nahm das Entsetzen in Kauf, den Abscheu, die Geißelungen und die Schande, die damit einhergingen. Er ging unbeirrt seinen Weg und weigerte sich, trotz der gesellschaftlichen Missbilligung davon abzuweichen. Einige Leute - vielleicht sogar eine ganze Menge - bewunderten Dexter dafür. Sein Leben war schwierig, sogar gefährlich, doch er tat, was er tat, weil er das Gefühl hatte, es tun zu müssen - trotz aller Hindernisse. Die Definition von Mut.«
Eine weitere Pause. Diesmal bewegen sich die Hände. Ein Daumen kommt frei und reibt die Perlen des Rosenkranzes.
»Doch Dexter hatte noch ein Geheimnis. Er hat es seinem Tagebuch anvertraut. Ich habe die Seiten des Tagebuchs hier. Ich habe sie gestohlen, nachdem ich ihn getötet habe.«
Schwarzblende. Die weißen Buchstaben: »Fortsetzung im nächsten Clip.«
»Verdammt!«, rufe ich.
»Es ist nicht einfach, sich an dieses Medium zu gewöhnen«, räumt Alan ein.
Er klickt auf das nächste Vorschaubild. Als das Video beginnt, ist das Fenster ausgefüllt mit einem Blatt Papier. Ich erkenne Lisas Handschrift wieder. Der Erzähler zieht das Blatt von der Linse weg und hält es in der Hand, sodass er davon ablesen kann. Der Rosenkranz bleibt unverwandt in seiner Linken, und er bewegt andächtig die Perlen zwischen Daumen und Zeigefinger - eine Bewegung, die ihm so natürlich ist wie Gehen. Er beginnt zu lesen.
DIE SÜNDE DES DEXTER REID
Kapitel 22
Es war ein perfekter Sommertag. Heiß, nicht zu schwül und angefüllt mit Dutzenden Verheißungen. Alles außer Schule.
Dexter stand auf der Veranda des Hauses und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Es war eine schöne Gegend, kein Zweifel. Nicht, dass das Schöne von den neuen Häusern herkam, sondern von den gepflegten, alten Villen, die sorgsam in Schuss gehalten wurden.
Der Himmel war von einem intensiven Blau; ein »Texashimmel«, wie Mom ihn nannte. Texas war ein Land voller flacher, wogender Hügel, und weil es in Austin kaum Wolkenkratzer gab, konnte man vielerorts von Horizont zu Horizont den blauen Himmel sehen. Es war wunderschön.
Dexter war an diesem Samstag wie üblich
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