Das Boese in uns
Rosemary?«
Schweigen. Zuckungen. Schwitzen.
»Was ist am nächsten Tag passiert, Rosemary?«
Sie schüttelt den Kopf, hin und her, hin und her.
»Nein ... nein ... nein ...«
»Gott liebt dich, Rosemary. Gott ist Liebe.«
Diese Worte bewirken eine Veränderung, die ich nicht verstehe. Rosemary bricht in Tränen aus.
»Er hat sich umgebracht. Er ist ins Bad gegangen und hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, weil er wusste, dass ich den Grund kenne. Niemand sonst hat ihn je erfahren. Nicht Mom, nicht Dad, aber ich, ich kannte ihn, kannte ihn, kannte ihn ... Das Böse in mir, der verdammte Hunger hatte den süßen Dylan getötet ... Hat ihn gezwungen, gegen seinen Willen Böses zu tun ... hat ihn lebendig aufgefressen. Das hungrige Böse in mir hat ihn getötet.«
Es überläuft mich eiskalt angesichts der Qual in ihrer Stimme. Das hungrige Böse.
»Sehr gut, Rosemary«, sagt die Stimme, in der erstaunlicherweise tiefes Mitgefühl liegt, das aufrichtig zu sein scheint. »Ich werde dir jetzt Frieden geben. Ich werde dich nach Hause zu Gott schicken. Würde dir das gefallen?«
Sie spricht das Vaterunser.
»Vater unser, der du bist im Himmel ...«
Ein langer Metallstab mit einer scharfen Spitze erscheint im Blickfeld der Kamera.
»... geheiligt werde dein Name ...«, sagt der Mann.
Schnitt.
Wir sehen den Mann wieder am Tisch sitzen. Ich weiß, was in der Zwischenzeit passiert ist. Er hat Rosemary den Stab in die Seite gerammt, mit der Spitze schräg nach oben, ins Herz, und ihr den schnellen Tod verschafft, den er ihr versprochen hatte.
»Einmal mehr«, sagt der Mann. »Sehen Sie? Ein enthülltes Geheimnis, das ein weiteres, tieferes, dunkleres Rätsel verbirgt. Die Wahrheit ist kein Streben, sondern eine augenblickliche Ankunft.«
Zum ersten Mal ändert sich seine Körperhaltung. Er schiebt den Rosenkranz zur Seite und legt die Hände flach auf die Tischplatte.
»Ich habe mein Leben damit verbracht, mich auf diesen Moment vorzubereiten. Auf diese Enthüllung. Ich habe dies nicht um meiner selbst willen getan. Ich habe dies nicht getan, weil ich das Töten genieße.«
»Natürlich nicht«, ätzt Callie.
»Ich habe diese Zeit gebraucht, um ein nicht zu widerlegendes Argument für die Wahrheit zu liefern. Denn wie lautet die grundlegendste Wahrheit? Lebe mit Lügen, lebe in Sünde, und du bringst dich selbst um die Früchte des Himmels. Lebe mit der Wahrheit, beichte deine Sünden, halte nichts zurück, und du wirst sitzen zur Rechten Gottes, wenn dein letzter Tag gekommen ist. So einfach ist das. Es erfordert keine Debatten, keine endlosen Diskussionen. Es erfordert weiter nichts als eine Ebene des Absoluten, auf der man handelt.
Wir alle lieben unsere kleinen Sünden. Die Geheimnisse, die wir für uns behalten - manchmal sind sie das Einzige, das wir wirklich und wahrhaftig unser Eigen nennen können. Ich verstehe das sehr wohl. Ich weiß, dass das Leben hart sein kann. Die Mutter, die drei Jobs gleichzeitig hat und ohne fremde Hilfe vier Kinder aufzieht, stiehlt sich für kurze Zeit davon, um sich mit einem verheirateten Mann zu treffen. Es verleiht ihrem Leben einen Schuss Aufregung und ein gestohlenes, vorübergehendes Gefühl von Freiheit, ohne dass sie glaubt, sterben zu müssen. Oh ja, die Sünde kann manchmal wie Wasser in der Wüste sein. Das ändert für die Frau aber nichts daran, dass sie niemals ins Himmelreich eingehen wird, wenn sie ohne vollständige und vorbehaltlose Beichte ihrer Sünde stirbt, mag sie noch so fleißig arbeiten, und mag sie ihre Kinder zu noch so anständigen Menschen erziehen. Fragen Sie sich also selbst: Sind diese gestohlenen Augenblicke eine Ewigkeit in Verdammnis wert?
Ich habe zwei Jahrzehnte damit verbracht zu töten - nicht wegen des Nervenkitzels, sondern um hier und jetzt anzukommen und Ihnen die Wahrheit dessen zu überbringen, was ich gesehen habe.
Ich habe meine Opfer mit Bedacht ausgewählt, wie Sie sehen werden. Jedes hatte ein dunkles Geheimnis, das es nicht preisgeben wollte, unter gar keinen Umständen. Und doch sitzen inzwischen alle zur Rechten Gottes und erfreuen sich an den Wundern des Himmels. Letztendlich gaben sie ihr Leben hin, damit Sie begreifen können. Diese Opfer waren Märtyrer, nicht aus freien Stücken zwar, aber dennoch waren sie Märtyrer.
Ich bin kein Messias. Es hat nur einen Messias gegeben - Jesus Christus, den Sohn Gottes. Doch voller Demut tue ich kund, dass ich ein Prophet bin,
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