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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Beifall ganz verebbt war, formte er lautlos mit den Lippen die Worte: 
    Der aufgehende Mond, den ich auf die Kugel geritzt habe, ist kein aufgehender Mond. 
    Er ist mein eigenes Lächeln. 
    Ich habe der Kugel im Lauf mein Lächeln aufgeprägt. 
    Er sagte es nur einmal. 
    Er wartete, bis sie verstanden hatte. Dann sagte er es, lautlos, noch einmal. 
    Im nächsten Augenblick, noch bevor der Illustrierte Mann ebenfalls die Worte übersetzen konnte, rief er: "Achtung!" 
    Will hielt die Luft an. Weit weg, zwischen den Wachsfiguren, saß Jim versteckt, Speichel tropfte ihm übers Kinn. Die gefesselte Mumie auf dem elektrischen Stuhl summte zwischen den Zähnen, tot-lebendig. Mr. Darks Illustrationen zuckten unter klebrigem Schweiß, als er ein letztes Mal die Faust ballte – zu spät! Gelassen hielt Will still. Ebenso gelassen und ruhig sagte sein Vater: "Jetzt!" 
    Der Schuß krachte. 

Achtundvierzigstes Kapitel 

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    Ein Schuß! 
    Die Hexe schnappte nach Luft. 
    Jim im Wachsmuseum schnappte nach Luft. 
    Im Schlaf schnappte Will nach Luft. 
    Sein Vater auch. 
    Und Mr. Dark. 
    Alle Mißgeburten hielten die Luft an. 
    Und die Zuschauermenge. 
    Die Hexe schrie gellend auf. 
    Jim stieß zwischen den Wachspuppen die Luft aus seinen Lungen. 
    Auf der Bühne schrie Will sich selbst wach. 
    Der Illustrierte Mann gab einen wütenden Laut von sich und hob beschwörend die Hände, um alles ungeschehen zu machen. 
    Aber die Hexe stürzte. Sie fiel von der Tribüne. Sie fiel in den Staub. 
    Charles Halloway hielt die rauchende Flinte in der gesunden Hand und atmete langsam die aufgestaute Luft aus. Er spürte jedes Quentchen davon, wie es ihm über die Lippen kam. Dabei blickte er immer noch über Kimme und Korn nach der Stelle, an der eben noch die Hexe gestanden hatte. 
    Mr. Dark stand an der Kante der Bühne und starrte auf die schreiende Menge hinab – und auf den Grund ihrer Erregung. 
    "Sie ist ohnmächtig..." 
    "Nein, sie ist nur ausgerutscht." 
    "Sie ist – erschossen!" 
    Endlich trat Charles Halloway neben den Illustrierten Mann und sah ebenfalls hinab. Seine Miene drückte vielerlei aus: Überraschung, Bestürzung, gleichzeitig aber auch eine Spur von eigenartiger Erleichterung und Befriedigung. 
    Die Frau wurde aufgehoben und auf die Bretter gelegt. 
    Ihr Mund stand offen, auf ihrer Miene lag fast ein Ausdruck des Erkennens. 
    Er wußte, daß sie tot war. Im nächsten Augenblick würde es auch die Menschenmenge erfassen. Er sah zu, wie der Illustrierte Mann sie berührte, nach Leben fühlte. 
    Dann hob Mr. Dark ihre beiden Hände hoch, wie bei einer Puppe, die an Fäden hängt, um sie wiederzubeleben. Doch der Leib machte nicht mit. 
    Da reichte er einen Arm der Hexe dem Zwerg, den anderen dem Skelett. Während die Leute zurückwichen, schüttelten sie die schlaffe Gestalt in einer gespenstischen Karikatur von Wiederbelebungs-Versuchen. 
    "Tot." 
    "Aber – da ist doch keine Wunde." 
    "Vielleicht der Schock?" 
    Schock, überlegte Charles Halloway. Mein Gott, ist sie daran gestorben? Oder an der Kugel? Ist ihr vielleicht die echte Kugel in die Kehle geraten, als ich schoß? Ist sie – an meinem Lächeln erstickt? Herr im Himmel! 
    "Alles in Ordnung. Die Vorstellung ist beendet. Nur ohnmächtig", sagte Mr. Dark. "Alles gespielt. Es gehört zu ihrer Rolle", erklärte er und sah die Frau dabei nicht an, nicht die Menge, sondern nur Will, der blinzelnd dastand und von einem Alptraum in den anderen sank. 
    Sein Vater blieb neben ihm, und Mr. Dark rief: "Geht alle nach Hause! Die Vorstellung ist beendet! Licht aus!" 
    Die Lichter des Zirkus flackerten. 
    Die Menge wurde von der verlöschenden Beleuchtung aufgescheucht. Sie drehte sich wie ein gewaltiges Karussell und strömte, als die Lichter matter wurden, den wenigen noch verbliebenen Lichtkreisen zu, als wollte sie sich dort noch einmal aufwärmen, bevor sie draußen den rauhen Winden zu trotzen hatte. Dann ging ein Licht nach dem anderen aus. 
    "Licht!" rief Mr. Dark. 
    "Spring!" sagte Wills Vater. 
    Will sprang. Er lief mit seinem Vater weg. Der trug noch immer die Flinte, die das tödliche Lächeln auf die Staubhexe abgefeuert hatte. 
    "Ist Jim dort drin?" 
    Sie standen vor dem Spiegelkabinett. Hinter ihnen, auf der erhöhten Bühne, schrie Mr. Dark: "Licht! Geht nach Hause! Alles vorbei! Aus!" 
    "Ist Jim eigentlich drin?" überlegte Will. "Ja, ja! Er ist da

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