Das böse Spiel der Natalie Hargrove (German Edition)
wir in der Nacht J. B. als Teil seiner persönlichen Interpretation der Krippenszene zurückgelassen hatten, waren Mike und ich noch zum Pitch’n’Putt gefahren, um uns eine Flasche Sekt für die Heimfahrt zu besorgen. Das Bild von J. B., der in seiner Federboa aufwachte, musste unbedingt begossen werden. Aber jetzt, wo Mom über mir stand, regte sich in mir der Verdacht, dass der Preis dafür, den Abend mit so billigem Gesöff beschlossen zu haben, verdammt hoch war.
Ich humpelte zum Spiegel, um den Schaden zu begutachten.
Oh, das tat weh. Von den gestrigen Locken war kaum noch etwas zu sehen; stattdessen fielen mir die Haare in zerzausten Strähnen ums Gesicht. Der Kleber der falschen Wimpern hing noch auf meinen Augenlidern und meine Lippen waren geschwollen und aufgesprungen.
»Nun, du riechst jedenfalls, als hättest du dich letzte Nacht prächtig amüsiert.« Mom hielt sich affektiert die Nase zu. Dann seufzte sie: »Wenigstens etwas Gutes hast du von mir gelernt.«
Mom war in einem früheren Leben Beauty-Queen von Cawdor County gewesen und hatte in einem etwas späteren Leben die Beauty-School abgebrochen. Als sie es endlich geschafft hatte, ihren Kellnerinnenjob aufzugeben, hatte sie angefangen, Teilzeit im Leichenschauhaus von Charleston zu arbeiten, wo sie die Toten herrichtete, deren Familien zu sehr trauerten, um dagegen Einspruch zu erheben. Irgendwann aber hatte ihr Mann des Monats ihr die Idee in den Kopf gesetzt, dass sie ihre Fähigkeiten doch auch an den Lebenden anwenden konnte. Mittlerweile hatte sie sich tatsächlich Visitenkarten mit ihrem Mädchennamen und dem unfreiwillig zweideutigen Spruch Dotty Perch: You’ll never look better drucken lassen.
Moms kleines Geschäft war zwar noch meilenweit davon entfernt, auf der Erfolgsspur zu sein, aber nachdem ich siebzehn Jahre lang die einzige lebende Adressatin für ihre Ratschläge gewesen war, wie man sich richtig herausputzt, damit man einen Mann kriegt, konnte ich ihre Bemühungen um eine dankbarere Klientel nur unterstützen.
Das Leben mit einer alleinerziehenden Mutter wie meiner, das heißt, mit der Sorte, die nie wirklich lange allein ist, ist ein unendliches Hin und Her zwischen Mutter-Tochter-Verhältnis und Beste-Freundin-sein. Als ich meinen ersten Kuss bekam – mit zwölf in einer schummrigen Ecke des Anglerbedarfladens; ja, gleich neben den Würmern –, wollte Mom mehr schmutzige Details wissen als meine Freundinnen in der Schule.
Dummerweise nahm sie an, dass mein Interesse an ihrem Sexleben ähnlich groß war. Es gab eine Zeit, da kletterte Mom jedes Mal, wenn sie am Morgen nach einem Date zu Hause abgesetzt wurde, zu mir ins Bett. Sie kuschelte sich an mich und murmelte vor dem Einschlafen, wie froh sie sei, dass wir beste Freundinnen waren. Ich strich ihr den verschmierten Lidschatten aus den Augenwinkeln und brachte es nicht über mich, so laut zu stöhnen, dass sie wach wurde.
Das soll nur verdeutlichen, dass es mir schwerfiel, Mom ernst zu nehmen, wenn sie gelegentlich in den strengen Elternmodus umschaltete, zum Beispiel um mich zu einem Frühstück nach unten zu treiben. Manchmal wünschte ich, sie könnte es so machen wie ich mit Binky. Sie sollte sich eine Seite aussuchen und dort bleiben.
Jetzt nahm Mom eine Bürste von meinem Toilettentisch und fuhr mir damit durch das Rattennest auf meinem Kopf.
»Möchtest du etwas Haarspray, Liebes?«, fragte sie. »Ich finde immer, dass nichts einen Kater so gut vertreibt wie der Geruch von Aerosol.«
»Schon gut, Mom, ich glaube, ich springe lieber schnell unter die Dusche.«
»Okay, mein Kleines.« Sie küsste mich auf die Stirn. »Aber vergiss nicht …«
»Familienfrühstück, ich weiß«, ergänzte ich.
Mom zwinkerte mir erleichtert zu und ging zur Tür.
»Oh, bevor du gehst«, sagte ich und blätterte die Kleiderbügel in meinem Schrank durch. »Ich glaube, ich habe eine Strickjacke, die wunderbar zu deinem Kleid passt.« Ich nahm die weiße Jacke heraus, die ich beim Essen mit den Kings getragen hatte, und legte sie meiner Mutter um die nackten Schultern.
»Perfekt«, fand ich. »Für die Kirche.«
Eine halbe Stunde später schleppte ich mich die Treppe hinunter. Ich hatte immer noch einen Kater und war immer noch sauer, dass ich zu einem Essen mit den Dukes gezwungen wurde, aber zumindest wusste ich, dass ich, anders als Mom, für die Charlestoner Kirchengemeinde passend gekleidet war. Heute hatte ich ein dunkelblaues Hemdblusenkleid ausgesucht, flache
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