Das Böse unter der Sonne
Einfach der Ordnung halber.»
Christine Redfern nickte. «Ja, das begreife ich sehr gut», sagte sie mit ihrer ruhigen, sachlichen Stimme. «Wo wollen wir anfangen?»
«Beim heutigen Vormittag», antwortete Poirot. «So früh wie möglich, Madame. Wann sind Sie aufgestanden, und was taten Sie dann?»
«Warten Sie mal! Auf meinem Weg hinunter zum Frühstücken ging ich bei Linda vorbei und verabredete mich mit ihr zu einem Spaziergang zur Möwenbucht. Wir wollten uns in der Halle treffen – um halb elf Uhr.»
«Sie hatten nicht die Absicht, vor dem Frühstück zu schwimmen, Madame?»
«Nein. Ich schwimme selten», sagte sie und lächelte. «Das Wasser muss richtig warm sein, ehe ich hineingehe. Mir ist schnell kalt.»
«Aber Ihr Mann schwimmt morgens?»
«O ja. Fast jeden Tag.»
«Und Mrs Marshall auch?»
Christines Stimme änderte sich. Sie wurde kalt, fast scharf. «Nein. Mrs Marshall gehörte zu den Leuten, die immer erst am späten Vormittag auftauchten.»
«Entschuldigen Sie, Madame», sagte Hercule Poirot mit verlegenem Gesicht. «Ich habe Sie unterbrochen. Sie erzählten gerade, dass Sie zu Miss Linda Marshall gingen. Wieviel Uhr war es da?»
«Lassen Sie mich überlegen – ich glaube, halb neun, nein, etwas früher.»
«Und Miss Marshall war bereits auf?»
«Aber ja. Sie war schon weggewesen.»
«Weggewesen?»
«Ja, sie behauptete, sie habe geschwommen.»
Ein schwacher, ein sehr schwacher Unterton der Verwirrung schwang in Christines Stimme mit, was Hercule Poirot nachdenklich machte.
«Und dann?», fragte Weston.
«Ich frühstückte.»
«Und nach dem Frühstück?»
«Ging ich wieder in mein Zimmer hinauf, holte meine Zeichentasche, und wir zogen los.»
«Sie und Miss Linda Marshall?»
«Ja.»
«Wie spät war es?»
«Ich glaube, so gegen halb elf.»
«Und weiter?»
«Wir wanderten zur Möwenbucht. Sie wissen schon, die Bucht auf der Ostseite der Insel. Dort ließen wir uns häuslich nieder. Ich zeichnete, und Linda legte sich in die Sonne.»
«Wann brachen Sie auf?»
«Um Viertel vor zwölf. Ich wollte um zwölf Uhr Tennis spielen und musste mich noch umziehen.»
«Sie hatten Ihre Uhr dabei?»
«Nein. Ich fragte Linda, wie spät es sei.»
«Aha. Und dann?»
«Ich packte meinen Zeichenkram zusammen und kehrte zum Hotel zurück.»
«Und Mademoiselle Linda?», fragte Poirot.
«Linda? Ach, Linda ging ins Wasser.»
«Saßen Sie weit weg vom Wasser?»
«Nun, wir befanden uns hinter der Hochwasserlinie. Direkt unter den Felsen. So konnte ich im Schatten sitzen, und Linda konnte in der Sonne liegen.»
«War Linda Marshall schon im Wasser, als Sie aufbrachen?», fragte Poirot.
Christine runzelte die Stirn und überlegte angestrengt.
«Warten Sie. Sie lief den Strand hinunter. Ich machte meine Zeichenkiste zu – ja, ich hörte noch, wie sie in den Wellen herumplanschte, während ich den Felsenpfad hinauflief.»
«Sind Sie sicher, Madame? War sie tatsächlich im Wasser?»
«Ja, bestimmt.» Sie blickte ihn erstaunt an.
Weston musterte Poirot nachdenklich. Dann sagte er: «Erzählen Sie weiter, Mrs Redfern.»
«Ich kehrte also ins Hotel zurück, zog mich um und ging zu den Tennisplätzen, wo die andern bereits warteten.»
«Wer waren die andern?»
«Captain Marshall, Mr Gardener und Miss Darnley. Wir spielten zwei Sätze. Wir wollten gerade neu anfangen, als wir hörten, was mit – mit Mrs Marshall geschehen war.»
Hercule Poirot beugte sich vor. «Und was dachten Sie da, Madame? Als Sie die Nachricht erfuhren?»
Ihr Gesicht verriet, dass ihr die Frage nicht gefiel. «Was ich dachte?»
«Ja.»
«Eine schreckliche Sache. Entsetzlich, dass so was passieren kann», sagte sie langsam.
«Ja, Sie regten sich darüber auf, das verstehe ich. Aber was bedeutete es für Sie – persönlich?»
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, in dem etwas Flehendes lag. Er reagierte darauf und sagte sachlich:
«Ich frage Sie, Madame, als eine Frau, die intelligent ist und eine Menge gesunden Menschenverstand besitzt. Während Ihres Aufenthaltes hier hatten Sie sich zweifellos eine Meinung von Mrs Marshall gemacht. Was für eine Frau war sie?»
«Ich denke doch, dass man sich von den andern Gästen immer eine Meinung macht, wenn man längere Zeit mit ihnen zusammen in einem Hotel ist.»
«Gewiss. Das ist ganz normal. Und deshalb frage ich Sie, Madame, waren Sie tatsächlich über die Art ihres Todes sehr überrascht?»
«Ich glaube, ich verstehe, was Sie sagen wollen», erwiderte Christine.
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