Das Bourne Imperium
das Gesicht, sondern auch den Kopf verloren hatte, war Unhöflichkeit aus der Mode, mit Ausnahme der Grenzwächter.
Es war zehn nach elf. Die Passagiere kamen durch den langen, eingezäunten Korridor unter freiem Himmel, nachdem sie die Passkontrolle hinter sich gebracht hatten. Hauptsächlich handelte es sich um Touristen, überwiegend Weiße, meist verwirrt und von ehrfürchtigem Staunen darüber erfüllt, dass sie hier waren. In der Mehrzahl waren es kleine Touristengruppen, begleitet von Reiseleitern – je einer aus Hongkong und der Volksrepublik –, die akzeptables Englisch oder Deutsch oder Französisch und etwas widerstrebend Japanisch sprachen, für jene besonders unsympathischen Besucher mit mehr Geld als Marx oder Konfuzius je gehabt hatten. Jason studierte jeden einzelnen weißen Mann. Die vielen, die über einsachtzig groß waren, waren zu jung oder zu alt oder zu stattlich oder zu schmal, oder in ihren limonengrünen oder zitronengelben Hosen zu auffällig, als dass sie der Mann aus Macao hätten sein können.
Augenblick! Dort! Ein älterer Mann in einem beigefarbenen Gabardineanzug, der wie ein mittelgroßer, leicht hinkender Tourist aussah, war plötzlich größer geworden – und jetzt hinkte er auch nicht mehr! Er ging mit schnellen Schritten quer durch die Menschenmenge und rannte auf den riesigen Parkplatz, der mit Bussen und ein paar Taxis angefüllt war, von denen jedes an der Windschutzscheibe eine Plakette trug: zhan – außer Dienst. Bourne rannte hinter dem Mann her, zwängte sich zwischen den Leibern durch, ohne darauf zu achten, wen er beiseite stieß. Das war der Mann – der Mann aus Macao!
»Hey, sind Sie verrückt? Ralph, der hat mich gestoßen!«
»Dann stoß ihn doch auch. Was soll ich denn tun?«
»Etwas unternehmen !«
»Er ist weg.«
Der Mann in dem Gabardineanzug sprang durch die offene Tür eines Lieferwagens, eines dunkelgrünen Lieferwagens mit getönten Fenstern, der, den chinesischen Schriftzeichen nach zu schließen, der Chutang-Vogelschutzwarte gehörte. Die Türe wurde zugezogen, und das Fahrzeug raste vom Parkplatz auf die Ausfahrt zu. Bourne war verzweifelt; er durfte ihn nicht entkommen lassen! Ein altes Taxi stand zu seiner Rechten. Der Motor nagelte im Leerlauf. Er zog die Tür auf, wurde aber von einem unwilligen Ausruf begrüßt.
»Zhan!«, schrie der Fahrer.
»Shima?«, brüllte Jason und zog so viel amerikanisches Geld aus der Tasche, dass in der Volksrepublik fünf Jahre lang ein Luxusleben garantiert war.
»Aiya!«
»Zou!«, befahl Bourne, sprang auf den Beifahrersitz und deutete auf den Lieferwagen, der sich inzwischen in den Verkehr eingereiht hatte. »Bleiben Sie hinter ihm, dann können Sie Ihr eigenes Geschäft im Grenzgebiet anfangen«, sagte er auf kantonesisch. »Das verspreche ich Ihnen!«
Marie, ich bin so nahe dran! Ich weiß, dass er es ist! Ich werde ihn erledigen! Jetzt gehört er mir! Er ist unsere Rettung!
Der Lieferwagen schoss auf die Straße, bog bei der ersten Ausfahrt nach Süden und vermied damit den großen Platz, der mit Touristenbussen und Scharen von Schaulustigen überfüllt war, wich vorsichtig dem endlosen Strom von Fahrrädern aus. Der Taxifahrer holte den Lieferwagen auf einer primitiven Straße ein, deren Belag mehr aus hartgetretenem Schlamm denn aus Asphalt bestand. Jetzt konnte man das Fahrzeug mit den dunklen Fenstern sehen, wie es vor ihnen vor einem offenen Kistenwagen, der mit landwirtschaftlichen Geräten beladen war, in eine lange Kurve einbog. Am Ende der Kurve wartete ein Touristenbus, bog jetzt hinter dem Pritschenwagen in die Straße ein.
Bourne blickte an dem Lieferwagen vorbei; vor ihnen wurde es hüglig, und die Straße stieg an. Jetzt erschien ein weiterer Touristenbus, diesmal hinter ihnen.
»Shumchun«, sagte der Fahrer.
»Bin do?«, fragte Jason.
»Der Wasserspeicher von Shumchun«, antwortete der Fahrer auf chinesisch. »Ein sehr schönes Reservoir, einer der schönsten Seen von ganz China. Sein Wasser wird nach Süden geliefert, nach Kowloon und Hongkong. Um diese Jahreszeit von Besuchern überfüllt. Die Aussicht im Herbst ist herrlich.«
Plötzlich wurde der Lieferwagen schneller, preschte die Bergstraße hinauf, löste sich von dem Pritschenwagen und dem Ausflugsbus.
»Können Sie nicht schneller fahren? An dem Bus vorbei und dem Pritschenwagen!«
»Da sind so viele Kurven.«
»Versuchen Sie es!«
Der Fahrer drückte das Gaspedal durch und zwängte sich um den Bus herum,
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