Das Bourne Ultimatum
schier unmöglich. Es war die endgültige Fantasie, die optischen Illusionen scheinbar realer als die Realität, die Trugbilder zum Berühren, Fühlen, Benutzen, zum Betreten und Verlassen. Es war ein Gesamtkunstwerk, das man aus den immensen Wäldern entlang des Wolchow herausgeschnitten hatte. Von dem Augenblick an, als Bourne aus dem tiefen Unterwasser-Tunnel mit seinen Wachen, Toren und zahllosen Kameras heraufkam, war er einem Schock nahe und dennoch in der Lage, weiterzugehen, zu beobachten, aufzunehmen, zu denken.
Das amerikanische Lager war, wahrscheinlich wie die der anderen Länder, in Sektionen eingeteilt, die man in Zonen von acht- bis sechzehntausend Quadratmeter gebaut hatte und die deutlich voneinander getrennt waren. Eine Zone, direkt am Ufer des Flusses errichtet, mochte der Kern eines Dorfes an der Küste von Maine sein, ein anderes, weiter im Inland, eine kleine Südstaatenstadt, wieder eine andere die geschäftige Straße in der City einer Metropole. Jede war vollkommen ›authentisch‹, mit dem dazu passenden Verkehr, der Polizei, Kleidung, den Geschäften, Lebensmittelläden und Drugstores, Tankstellen und falschen Häuserfronten, von denen viele zwei Stockwerke hoch und so stimmig waren, dass sie amerikanische Beschläge an Türen und Fenstern hatten. So wichtig wie die physischen Erscheinungsformen war offensichtlich die Sprache - nicht nur die fließende Verwendung des Englischen, sondern die Meisterschaft in linguistischen Eigenarten, die Dialekte, die für die spezifischen Orte charakteristisch waren. Als Jason von einer Sektion in die andere wanderte, hörte er überall um sich herum die
kennzeichnenden Klänge. Vom neuenglischen Down Fast mit seinem ›eeahh‹ bis zum schleppenden texanischen Tonfall mit seinem vertrauten ›you all‹, vom leichten Näseln im mittleren Westen bis zur lauten Schroffheit der großen Städte im Osten mit dem unvermeidlichen › Know what I mean? ‹, am Ende unverbindlicher Sätze oder Aussagen. Es war alles unglaublich.
Er war auf dem Flug von Wnukowo von einem älteren Nowgorod-Absolventen eingewiesen worden, den Krupkin eilig aus seiner Moskauer Wohnung herbeizitiert hatte.
Der kleine, kahle Mann war nicht nur in seinen Anweisungen wortreich, sondern auf seine eigene Art faszinierend. Wenn irgendjemand Jason jemals erzählt hätte, er würde von einem sowjetischen Spionageagenten in alle Einzelheiten Nowgorods eingewiesen werden, dessen Englisch derart mit dem Akzent des tiefen Südens versetzt wäre, dass er volltönend mit dem Öl der Magnolien aus seinem Mund floss, dann hätte er diese Informationen für völlig grotesk, ja verrückt gehalten.
»Good Lawd , ich vermiss diese Barbecues, besonders die ribs. Wissen Sie, wer die am besten gegrillt hat? Der schwarze Knabe, den ich für meinen besten Freund gehalten habe, bis er mich entfernt hat. Can you imagine? Ich dachte, er wär einer von diesen Radikalen, dann stellte sich raus, dass er aus Dartmouth war und fürs FBI gearbeitet hat. Ein Anwalt, immerhin... Hell, der Austausch fand bei Aeroflot in New York statt, und wir schreiben uns immer noch.«
»Kindische Spiele«, hatte Bourne vor sich hin gemurmelt.
»Spiele?... O ja, er war ein echt guter Trainer.«
»Trainer?«
»Na klar. Ein paar von uns haben in East Point eine Little League gegründet. Das ist gleich draußen vor Atlanta.«
Unglaublich.
»Könnten wir uns bitte auf Nowgorod konzentrieren?«
»Sicher, sicher. Dimitrij hat es Ihnen vielleicht erzählt, ich habe mich halb zur Ruhe gesetzt, aber meine Pension macht es nötig, dass ich fünf Tage im Monat als Trainer arbeite, wie Sie sagen würden.«
»Ich habe nicht verstanden, was er damit meinte.«
»Ich werd’s Ihnen erklären.« Der seltsame Mann, dessen Stimme aus der alten Konföderation stammte, war gründlich.
Jedes Lager in Nowgorod war in drei Personenklassen aufgeteilt: die Trainer, die Kandidaten und den Operationsbereich. Die letzte Kategorie schloss die KGB-Angestellten, die Wachen und die Wartung ein. Die praktische Durchführung der Abläufe in Nowgorod war einfach strukturiert. Der Stab eines Lagers bildete die täglichen Trainingspläne jeder Sektion, und die Trainer, sowohl ständige als auch Teilzeitkräfte, meist Pensionäre, überwachten sämtliche Einzel- und Gruppenaktivitäten, während die Kandidaten sie ausführten, wobei sie ausschließlich die Sprache des Lagers und die sektionsspezifischen Dialekte verwendeten. Russen waren nicht zugelassen. Die
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