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Das Bourne-Vermächtnis

Das Bourne-Vermächtnis

Titel: Das Bourne-Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Ludlum
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worden war. Obwohl es aus bleigrauem Himmel stark regnete, blinzelte Chan ins Tageslicht. Das Rad der Zeit hatte sich weitergedreht; die Monsunperiode hatte begonnen.
    Im Treppenhaus liegend erkannte Chan jetzt, dass er als Heranwachsender nie über sein eigenes Leben hatte bestimmen können. Das wirklich Eigenartige und Beunruhigende war, dass er das noch immer nicht konnte. Er hatte sich eingebildet, sein eigener Herr zu sein, nachdem er sich große Mühe gegeben hatte, sich in einer Branche zu etablieren, in der man seiner – freilich naiven
    – Ansicht nach frei und ungebunden agieren konnte.
    Wollte er sich jemals von den Ketten befreien, die ihn fesselten, würde er etwas wegen Stepan Spalko unternehmen müssen. Chan wusste, dass er gegen Ende ihres letzten Telefongesprächs unverschämt zu ihm gewesen war, und er bedauerte das jetzt. Mit diesem für ihn so untypischen Wutausbruch hatte er nichts anderes erreicht, als Spalko misstrauisch und wachsam zu machen.
    Andererseits, das erkannte er nur allzu deutlich, war es mit seiner eiskalten Zurückhaltung vorbei, seit Bourne sich in der Old Town von Alexandria neben ihn auf eine Parkbank gesetzt hatte. Jetzt stiegen Emotionen, die er weder benennen noch verstehen konnte, in ihm an die Oberfläche, wühlten sein Bewusstsein auf und trübten seine Gedanken. Erschrocken wurde ihm klar, dass er in Bezug auf Jason Bourne nicht mehr genau wusste, was er wollte.
    Chan setzte sich auf, sah sich um. Er hatte ein Geräusch gehört, das wusste er genau. Er stand auf, legte eine Hand aufs Treppengeländer, spannte fluchtbereit alle Muskeln an. Und dann kam es wieder. Er wandte den Kopf zur Seite. Was war dieses Geräusch? Wo hatte er das schon einmal gehört?
    Sein Herz jagte und schlug ihm bis zum Hals, als dieser Ruf im Treppenhaus aufsteigend in seinem Gehirn echote, und nun rief auch er: »Li-Li! Li-Li!«
    Aber Li-Li konnte nicht antworten. Li-Li war tot.
    Kapitel neunzehn
    Der unterirdische Zugang zum Kloster lag im Schatten der tiefsten Spalte in der Nordwand der Schlucht verborgen. Die tiefer stehende Sonne hatte enthüllt, dass die Spalte eher ein Engpass war – wie schon vor vielen Jahrhunderten, als die Mönche diesen Ort für ihr wehrhaftes Kloster ausgewählt hatten. Vielleicht waren sie kampferprobte Mönche gewesen, denn die ausgedehnten Befestigungsanlagen kündeten von Kämpfen und Blutvergießen und der Notwendigkeit, das Kloster gegen äußere Feinde zu verteidigen.
    Das Team bewegte sich, der Sonne folgend, schweigend durch den Engpass. Zwischen Spalko und Sina gab es jetzt kein intimes Gespräch mehr, nicht den geringsten Hinweis darauf, was zwischen ihnen vorgefallen war, obwohl es ungeheuer bedeutsam gewesen war. In gewisser Beziehung hätte man von einem heiligen Segen sprechen können; jedenfalls war damit ein Transfer von Loyalität und Macht verbunden gewesen, den Schweigen und Geheimhaltung jetzt noch wirkungsvoller machten.
    Es war wieder Spalko gewesen, der einen metaphorischen Kiesel in einen stillen Teich geworfen und sich dann zurückgelehnt hatte, um zu beobachten, wie die kleinen Wellen sich ringförmig ausbreiteten und die grundlegende Natur des Teichs und aller seiner Bewohner veränderten.
    Die von der Sonne angestrahlten Felsen blieben hinter ihnen zurück, als sie in den Schatten eintraten und ihre Stablampen einschalteten. Spalko und Sina wurden von zwei Männern begleitet – der dritte Mann lag, von dem Chirurgen betreut, in Spalkos Privatjet auf dem Flughafen Kazantzakis. Sie trugen leichte Nylonrucksäcke mit allen möglichen Ausrüstungsgegenständen von Tränengaskanistern bis zu Zwirnspulen. Da Spalko nicht wusste, was sie erwartete, hatte er für alle Eventualitäten vorgesorgt.
    Die beiden Männer, die schussbereite Maschinenpistolen an breiten Schultergurten trugen, bildeten die Vorhut. In dem schmalen Engpass mussten sie hintereinander hergehen. Wenig später verschwand der Himmel jedoch unter einem Felsendach, und sie befanden sich in einer Höhle. Sie war feucht und moderig, roch nach Verwesung.
    »Sie stinkt wie ein geöffnetes Grab«, sagte einer der Männer.
    »Seht euch das an!«, rief der andere. »Knochen!«
    Sie blieben stehen, und der Lichtschein ihrer Stablampen konzentrierte sich auf die verstreuten Knochen eines kleinen Säugetiers, aber keine hundert Meter weiter stie
    ßen sie auf den Schenkelknochen eines weit größeren Warmblüters.
    Sina ging in die Hocke, um den Knochen in die Hand zu

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