Das Bourne-Vermächtnis
habe in seiner Nähe die Kontrolle über sich verloren. Sie hatte sich von ihm getrennt, weil Stepan es ihr befohlen hatte. Das hatte ihr nichts ausgemacht; tatsächlich hatte es ihr sogar Spaß gemacht, Chans Gesichtsausdruck zu beobachten, als sie ihm erklärt hatte, es sei aus. Sie hatte ihm wehgetan, was ihr gefallen hatte. Gleichzeitig sah sie, dass er sich etwas aus ihr machte, was sie verwunderte, weil sie dieses Gefühl selbst nicht kannte. Natürlich hatte sie vor langer, langer Zeit ihre Mutter geliebt, aber was hatte ihr dieses Gefühl letztlich genützt? Ihre Mutter hatte sie nicht beschützt; noch schlimmer, sie war gestorben.
Langsam, behutsam rückte sie von Bourne ab, bis sie sich umdrehen und aufstehen konnte. Als sie dann nach ihrem Mantel griff, sprach Bourne, der, aus tiefstem Schlaf erwachend, sofort hellwach war, leise ihren Namen.
Annaka drehte sich erstaunt um. »Ich dachte, du
schliefst noch. Habe ich dich geweckt?«
Bourne betrachtete sie ernst. »Wohin gehst du?«
»Ich … wir brauchen Sachen zum Anziehen, ein paar Toilettenartikel.«
Er setzte sich mühsam auf.
»Wie geht’s dir?«
»Ganz gut«, sagte er knapp. Er war nicht in der Stimmung, sich bemitleiden zu lassen. »Außer Kleidung brauchen wir beide etwas zur Tarnung.«
»Wir?«
»McColl hat dich erkannt, das bedeutet, dass er per E-Mail ein Foto von dir bekommen hat.«
»Aber wieso?« Sie schüttelte den Kopf. »Woher hat die CIA gewusst, dass wir zusammen sind?«
»Das hat sie nicht gewusst – zumindest nicht sicher«, erwiderte er. »Ich habe darüber nachgedacht und glaube, dass der einzige Hinweis aus deinem Computer gekommen ist. Als ich ins CIA-Intranet eingedrungen bin, muss ich einen internen Alarm ausgelöst haben.«
»Großer Gott!« Sie schlüpfte in ihren Mantel. »Trotzdem ist’s für mich auf der Straße noch immer viel sicherer als für dich.«
»Kennst du ein Geschäft, das Theaterschminke führt?«
»Der Theaterbezirk ist gleich um die Ecke. Ja, ich kann bestimmt eines finden.«
Bourne nahm Notizblock und Kugelschreiber vom
Nachttisch und schrieb hastig eine Liste. »Das alles brauchen wir für uns beide«, sagte er. »Ich habe dir auch meine Kragenweite, Schuhgröße und Taillenweite aufgeschrieben. Hast du genug Geld? Ich habe reichlich, aber nur US-Dollar.«
Sie schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Ich müsste zur Bank gehen und sie in Forint wechseln, und das könnte auffallen. In der Stadt gibt’s überall Geldautomaten.«
»Sei vorsichtig!«, sagte er warnend.
»Keine Angst.« Sie warf einen Blick auf seine Liste.
»Das kann ein paar Stunden dauern. Bis dahin bleibst du am besten hier im Zimmer.«
Sie fuhr mit dem winzigen ratternden Aufzug hinunter. Die winzige Hotelhalle war bis auf den Portier hinter dem Empfang leer. Er hob den Blick von seiner Tageszeitung, musterte sie gelangweilt und las dann weiter. Sie trat in das geschäftige Budapest hinaus. Die Gegenwart Kevin McColls, die vieles komplizierte, machte sie nervös, aber Stepan beruhigte sie, als sie ihn deswegen anrief. Sie hatte ihn schon bisher auf dem Laufenden gehalten, indem sie ihn jedes Mal aus ihrer Wohnung angerufen hatte, wenn sie in der Küche hatte Wasser laufen lassen.
Als sie sich in den Fußgängerstrom einreihte, sah sie auf ihre Uhr. Kurz nach halb neun. In einem Eckcafé trank sie einen Cappuccino und aß dazu ein Croissant; so gestärkt ging sie zu einem Geldautomaten am Rand des Geschäftsbezirks weiter, zu dem sie unterwegs war.
Sie schob ihre Bankkarte hinein, hob den Höchstbetrag ab, steckte das Bündel Geldscheine in ihre Umhängetasche und machte sich mit Bournes Liste in der Hand auf den Weg.
Auf der anderen Seite der Innenstadt betrat Kevin McColl die Filiale der Budapester Bank, bei der Annaka Vadas ihr Konto hatte. Er zeigte seinen Dienstausweis vor und wurde prompt ins Büro des Filialleiters, eines gut gekleideten Mannes in einem sehr gediegenen Anzug, gebeten. Sie schüttelten sich die Hand, dann bot der Bankier McColl mit einer Handbewegung den Besuchersessel vor seinem Schreibtisch an.
Der Filialleiter legte die Fingerspitzen aneinander.
»Was kann ich für Sie tun, Mr. McColl?«
»Wir fahnden nach einem internationalen Verbrecher«, begann der Amerikaner.
»Ah, und wieso fahndet Interpol nicht nach ihm?«
»Das tut sie«, sagte McColl, »ebenso wie die Sûreté Nationale in Paris, wo der Flüchtige sich zuletzt aufgehalten hat, bevor er nach Budapest gekommen ist.«
»Und der
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