Das Bourne-Vermächtnis
ehrlich verblüfft.
Bourne wandte sich ihm zu und sagte: »Ich verspreche dir, dass du nicht alle schweren Sachen allein heben musst.«
Chan wies sein Angebot nicht rundweg zurück. Stattdessen machte er widerstrebend ein Zugeständnis, ohne recht zu wissen, warum er das tat. »Zuerst müssen wir heil hier herauskommen.«
»Ja, ich weiß«, sagte Bourne. »Du hast’s geschafft, Feuer zu legen, und jetzt wimmelt’s hier von Feuerwehrleuten und bestimmt auch von Polizisten.«
»Ohne das Feuerwerk wäre ich tot.«
Bourne merkte, dass ihr spöttisches Geplänkel die Spannungen keineswegs abbaute. Es verstärkte sie im Gegenteil noch. Sie verstanden sich nicht darauf, miteinander zu reden. Er fragte sich, ob sie das jemals können würden. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast«, sagte er.
Chan konnte seinen Blick nicht erwidern. »Bild dir bloß nichts ein. Ich bin hergekommen, um Spalko zu erledigen.«
»Immerhin etwas«, sagte Bourne, »für das ich Stepan Spalko dankbar sein muss.«
Chan schüttelte den Kopf. »Das kann nicht funktionieren. Ich vertraue dir nicht, und du vertraust mir nicht.«
»Ich wäre bereit, es zu versuchen«, antwortete Bourne.
»Diese Sache ist viel wichtiger als alles, was zwischen uns steht.«
»Sag mir nicht, was ich denken soll«, sagte Chan
knapp. »Dafür brauche ich dich nicht; das habe ich nie nötig gehabt.« Er schaffte es, den Kopf zu heben und Bourne anzusehen. »Also gut, die Sache läuft folgendermaßen: Ich arbeite unter einer Bedingung mit dir zusammen. Du musst eine Möglichkeit finden, wie wir hier rauskommen.«
»Abgemacht.« Bournes Lächeln verblüffte Chan. »Im Gegensatz zu dir habe ich viele Stunden Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie man aus diesem Raum entkommen könnte. Ich habe angenommen, selbst wenn es mir irgendwie gelänge, mich aus dem Stuhl zu befreien, würde ich mit herkömmlichen Methoden nicht weit
kommen. In meinem Zustand wäre ich bestimmt nicht mit Spalkos Wachleuten fertig geworden. Deshalb habe ich mir eine andere Lösung einfallen lassen.«
Chan war sichtlich ungehalten. Er ärgerte sich darüber, dass dieser Mann mehr wusste als er. »Und die wäre?«
Bourne nickte zu dem Abflussgitter hinüber.
»Das Abflussrohr?«, fragte Chan ungläubig.
»Wieso nicht?« Bourne kniete vor dem Gitter nieder.
»Der Durchmesser reicht für einen Menschen aus.« Er machte eine Handbewegung, bevor er sein Schnappmesser aufspringen ließ und die Klinge in den schmalen Spalt zwischen Gitter und Eisenrahmen schob. »Nun hilf mir schon!«
Als Chan auf der anderen Seite des Gitters niederkniete, benützte Bourne die Messerklinge, um es leicht anzuheben. Chan stemmte es auf seiner Seite hoch. Bourne legte das Messer weg, griff ebenfalls zu und half ihm, das Gitter abzunehmen.
Chan merkte, dass die Anstrengung für Bourne
schmerzhaft war. Im selben Augenblick stieg ein fast unheimliches Gefühl in ihm auf, das seltsam und vertraut zugleich war, eine Art Stolz, den er nur mit einiger Verzögerung und unter beträchtlichen Qualen akzeptieren konnte. Dies war ein Gefühl, das er als kleiner Junge oft empfunden hatte, bevor er unter Schock stehend, einsam und verlassen durch den Dschungel bei Phnom Penh geirrt war. Seit damals hatte er sich so erfolgreich abgeschüttet, dass solche Empfindungen nie ein Problem für ihn gewesen waren. Jedenfalls bisher nicht.
Sie rollten das Abdeckgitter beiseite, und Bourne hob den blutverkrusteten Verband auf, den Spalko ihm abgerissen hatte, und wickelte sein Handy darin ein. Dann steckte er es mit dem zugeklappten Schnappmesser ein.
»Wer geht als Erster?«, fragte er.
Chan zuckte mit den Schultern, ohne sich irgendwie anmerken zu lassen, dass er beeindruckt war. Er konnte sich denken, wo dieses Abflussrohr endete, und vermutete, dass Bourne es ebenfalls wusste. »Es war deine Idee.«
Bourne ließ sich in das runde Loch hinunter. »Du
wartest zehn Sekunden, dann kommst du nach«, sagte er noch, bevor er verschwand.
Annaka war in Hochstimmung. Als sie in Spalkos gepanzerter Limousine zum Flughafen rasten, wusste sie, dass nichts und niemand sie jetzt noch aufhalten konnte. Ihr Versuch, sich in letzter Minute bei Ethan Hearn rückzuversichern, war also doch überflüssig gewesen, aber sie bereute diesen Annäherungsversuch nicht. Es war immer besser, übervorsichtig zu sein, und als sie beschlossen hatte, sich Hearns Unterstützung zu sichern, war Spalkos Schicksal noch in der Schwebe gewesen. Als sie
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