Das Bourne-Vermächtnis
den Lüftungsschlitz, holte noch einmal tief Luft und stopfte den Plastiksprengstoff so tief wie irgend möglich in den Spalt. Dann hielt er die Luft an, hastete an die gegenüberliegende Wand zurück und drückte den roten Knopf der Fernzündung.
Die ausgelöste Detonation sprengte ein Loch in die Wand und ließ sie teilweise einstürzen. Ohne abzuwarten, bis die Wolke aus Holz- und Steinstaub sich gesetzt hatte, sprang Chan mit einem Riesensatz in Spalkos Schlafzimmer.
Sonnenlicht fiel schräg durch die großen Fensterscheiben, und tief unter ihm glitzerte die Donau. Chan riss die Fenster auf, damit etwa eindringendes Gas entweichen konnte. Er hörte sofort Sirenengeheul, und als er nach unten blickte, konnte er die Feuerwehrautos und Streifenwagen, all die hektische Aktivität vor dem Haupteingang des Gebäudes sehen. Er trat vom Fenster zurück, sah sich um und orientierte sich mit einem raschen Blick in die Runde nach dem Grundriss, den Hearn ihm auf seinem Bildschirm gezeigt hatte.
Er wandte sich dem als leer eingezeichneten Bereich zu, stand vor glänzend lackierten Paneelen. Indem er ein Ohr ans Holz legte, klopfte er eines nach dem anderen ab. So erwies sich das dritte Paneel von links als Geheimtür. Ein leichter Druck gegen den linken Rand genügte, um sie nach innen aufschwingen zu lassen.
Chan betrat einen Raum aus schwarz gestrichenem
Beton und weißen Fliesen, in dem es nach Schweiß und Blut stank. Dort fand er den blutenden, misshandelten Jason Bourne. Er starrte Bourne an, der an einen Zahnarztstuhl gefesselt und von einem Kreis aus Blutspritzern umgeben war. Bourne war bis zur Taille nackt.
Arme und Schultern, Brust und Rücken waren mit Blasen, Prellungen und geschwollenen Wunden übersät.
Die beiden äußeren Lagen des Verbands über seinen Rippen waren weggerissen, aber die unterste war noch intakt.
Bourne drehte den Kopf zur Seite und starrte Chan mit dem Blick eines verwundeten Kampfstiers an: blutend, aber ungebrochen.
»Ich habe die zweite Detonation gehört«, sagte Bourne mit schwacher Stimme. »Ich dachte, dich hätte’s erwischt.«
»Enttäuscht?« Chan fletschte die Zähne. »Wo steckt er? Wo ist Spalko?«
»Du kommst leider zu spät«, sagte Bourne. »Er ist fort
– und Annaka Vadas mit ihm.«
»Sie hat schon immer für ihn gearbeitet«, sagte Chan.
»Ich habe versucht, dich in der Klinik zu warnen, aber du wolltest nicht hören.«
Bourne seufzte, schloss bei diesem scharfen Tadel die Augen. »Ich hatte keine Zeit.«
»Du hast wohl nie Zeit, richtig zuzuhören.«
Chan näherte sich Bourne. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er wusste, dass er die Verfolgung Spalkos hätte aufnehmen müssen, aber irgendetwas hielt ihn hier fest.
Er starrte die Wunden an, die Spalko Bourne zugefügt hatte.
Bourne sagte: »Bringst du mich jetzt um?« Das war weniger eine Frage als die Feststellung einer Tatsache.
Chan wusste, dass er nie eine bessere Gelegenheit bekommen würde. Das schwarze Ding in seinem Inneren, das er genährt hatte, das sein einziger Gefährte geworden war, das täglich durch seinen Hass gewachsen war und ihn täglich mit seinem Gift überschwemmt hatte, weigerte sich, zu sterben. Das Ungeheuer wollte Bourne ermorden und schaffte es jetzt beinahe, von ihm Besitz zu ergreifen. Beinahe. Chan spürte den Impuls, der aus dem Unterleib in seinen Arm emporkroch, aber sein Herz nicht berührte, sodass es ihm nicht gelang, den Arm zu bewegen.
Er machte abrupt auf dem Absatz kehrt und ging in Spalkos luxuriöses Schlafzimmer zurück. Wenige Minuten später kam er mit einem Glas Wasser und einer Hand voll Dingen zurück, die er im Bad zusammengerafft hatte. Er setzte Bourne das Glas an den Mund, kippte es langsam, bis er es ausgetrunken hatte. Wie aus eigenem Willen lösten seine Hände die Ledergurte und befreiten Bournes Handgelenke und Fußknöchel.
Bournes Augen verfolgten jede seiner Bewegungen, als er sich jetzt daran machte, die Wunden zu säubern und zu desinfizieren. Bourne hob die Hände nicht von den Armlehnen des Stuhls. In gewisser Weise fühlte er sich jetzt gelähmter als zuvor, als er noch gefesselt gewesen war. Er starrte Chan prüfend an, musterte jede Rundung, jede Linie, jeden Zug seines Gesichts. Erkannte er Daos Mund, seine eigene Nase? Oder war alles nur Einbildung? War dieser Mann tatsächlich sein Sohn? Er musste Gewissheit haben. Er musste begreifen, was geschehen war. Aber er spürte noch immer unterschwellige Zweifel, einen Anflug von Angst.
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