Das Bourne-Vermächtnis
Die Möglichkeit, den eigenen Sohn vor sich zu haben, den er so viele Jahre lang für tot gehalten hatte, war zu viel für ihn. Andererseits war auch das Schweigen, in das sie verfallen waren, unerträglich.
Also griff er auf das eine neutrale Thema zurück, von dem er wusste, dass es sie beide brennend interessierte.
»Du wolltest wissen, was Spalko vorhat«, sagte er, während er langsam und gleichmäßig atmete, weil jeder Tupfer mit Desinfektionsmittel Schmerzstiche durch seinen Körper jagte. »Er hat eine von Dr. Felix Schiffer erfundene Waffe gestohlen – einen tragbaren Diffusor. Irgendwie hat er einen Dr. Peter Sido – einen in der Klinik arbeitenden Epidemiologen – dazu gebracht, ihm die Ladung dafür zu liefern.«
Chan ließ ein blutgetränktes Gazepolster fallen und griff nach einem sauberen. »Nämlich?«
»Milzbrand, irgendein Designervirus, keine Ahnung.
Ich weiß nur, dass das Zeug absolut tödlich ist.«
Chan säuberte weiter Bournes Wunden. Der Fußboden war jetzt mit blutigen Gazepolstern übersät. »Warum erzählst du mir das jetzt?«, fragte er unverhohlen misstrauisch.
»Weil ich weiß, was Spalko mit dieser Waffe vorhat.«
Chan sah von seiner Arbeit auf.
Bourne fiel es körperlich schwer, ihm in die Augen zu sehen. Aber er holte tief Luft und sprach verbissen weiter. »Spalko steht unter enormem Zeitdruck. Er musste unbedingt fort.«
»Wegen des Terrorismusgipfels in Reykjavik.«
Bourne nickte. »Meiner Ansicht nach muss der Gipfel das Ziel des Anschlags sein.«
Chan richtete sich auf und spülte sich die Hände mit dem Schlauch ab. Er beobachtete, wie das rosa Wasser durch den riesigen Abfluss ablief. »Das heißt, falls ich dir glaube.«
»Ich verfolge sie jedenfalls weiter«, sagte Bourne. »Als ich das Puzzle zusammengesetzt habe, ist mir endlich klar geworden, dass Conklin sich Schiffer geschnappt und von Vadas und Molnar in Sicherheit hat bringen lassen, weil er von Spalkos Absicht erfahren hatte. Die Kodebezeichnung des Diffusors – NX 20 – habe ich auf einem Schreibblock in Conklins Haus entdeckt.«
»Deshalb ist Conklin also ermordet worden.« Chan
nickte. »Warum ist er mit diesen Informationen nicht zur Agency gegangen? Die CIA hätte Dr. Schiffer doch bestimmt besser schützen können.«
»Das kann mehrere Gründe gehabt haben«, antwortete Bourne. »Vielleicht hat er gedacht, niemand würde ihm glauben, weil Spalko einen glänzenden Ruf als Menschenfreund genießt. Er hatte jedoch nicht genug Zeit, und seine Erkenntnisse waren nicht konkret genug, um die CIA-Bürokratie zu raschem Handeln zu bewegen. Außerdem war das einfach seine Art. Alex hat es gehasst, Geheimnisse mit anderen zu teilen.«
Bourne stemmte sich langsam und unter Qualen hoch, stützte sich mit einer Hand auf die Rückenlehne des Stuhls. Er hatte weiche Knie, weil er so lange in halb liegender Haltung verbracht hatte. »Spalko hat Schiffer beseitigt, und ich vermute, dass er Dr. Sido hat – tot oder lebendig. Ich muss ihn daran hindern, alle Teilnehmer des Gipfeltreffens zu ermorden.«
Chan griff nach Conklins Handy, hielt es ihm hin.
»Hier. Ruf die Agency an.«
»Sie würden mir doch nicht glauben! Die Agency hält mich für den Kerl, der Conklin und Panov in dem Haus in Manassas ermordet hat …«
»Dann rufe ich an. Selbst die CIA-Bürokratie kann einen anonymen Anruf wegen eines geplanten Anschlags auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht ignorieren.«
Bourne schüttelte den Kopf. »Für die CIA-Sicherheitsmaßnahmen in Reykjavik ist ein gewisser Jamie Hull zuständig. Er würde bestimmt eine Möglichkeit finden, diese Warnung unter den Teppich zu kehren.« Seine Augen blitzten wieder. Die frühere Glanzlosigkeit war fast verschwunden. »Folglich bleibt nur eine andere Möglichkeit, aber ich glaube nicht, dass ich’s allein schaffen kann.«
»So, wie du aussiehst«, sagte Chan, »schaffst du überhaupt nichts mehr.«
Bourne zwang sich dazu, ihm in die Augen zu sehen.
»Um so mehr Grund für dich, gemeinsame Sache mit
mir zu machen.«
»Du spinnst wohl?«
Bourne ignorierte seine wachsende Feindseligkeit. »Du willst doch Spalko erledigen, genau wie ich. Wo ist der Haken?«
»Ich sehe nur Haken.« Chan grinste höhnisch. »Sieh dich doch an! Du bist erledigt.«
Bourne hatte sich von dem Stuhl gelöst, ging im
Raum auf und ab, streckte seine Muskeln und wurde mit jedem Schritt, den er machte, kräftiger und selbstsicherer. Chan beobachtete ihn dabei und war
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