Das Bourne-Vermächtnis
Feindschaft Spalko gegenüber sie wenigstens vorerst geeint hatte.
»Es gibt etwas«, sagte er mit einer Stimme, die er selbst kaum erkannte. »Einen wiederkehrenden Albtraum, in dem ich unter Wasser bin. Ich werde ertränkt, in die Tiefe gezogen, weil ich an ihre Leiche gefesselt bin. Sie ruft mich. Ich höre ihre Stimme rufen – oder meine Stimme, die sie ruft.«
Bourne erinnerte sich daran, wie Chan in der Donau um sich geschlagen, wie er in seiner Panik in eine Strömung geraten war, die ihn in die Tiefe gezogen hätte.
»Was sagt die Stimme?«
»Es ist meine Stimme. Ich sage: ›Li-Li, Li-Li.‹«
Bourne hatte das Gefühl, sein Herz setze einen Schlag aus, denn aus den Tiefen seiner eigenen verschütteten Erinnerung stieg Li-Li auf. Einen kostbaren Augenblick lang konnte er ihr ovales Gesicht mit den hellen Augen und Daos glattem schwarzem Haar sehen. »O Gott«,
flüsterte Bourne. »Li-Li war Joshuas Kosename für Alyssa. Nur er hat sie so genannt. Außer uns vieren hat niemand davon gewusst.«
Li-Li.
»Eine meiner stärksten Erinnerungen, die ich mit professioneller Hilfe zurückgewonnen habe, betrifft das Verhältnis zwischen euch Geschwistern – wie deine Schwester dich bewundert hat«, fuhr Bourne fort. »Sie wollte immer und überall in deiner Nähe sein. Wenn sie nachts schlecht geträumt hat, konntest nur du sie beruhigen.
Du hast sie Li-Li genannt und sie dich Joshy.«
Meine Schwester, ja. Li-Li. Chan schloss die Augen und befand sich sofort im trüben Wasser des Flusses in Phnom Penh. Dem Ertrinken nahe, unter Schock stehend, hatte er sie auf sich zutreiben gesehen: die von Kugeln durchsiebte Leiche seiner kleinen Schwester. Li-Li.
Vier Jahre alt. Tot. Ihre hellen Augen – Daddys Augen –
starrten ihn blicklos, anklagend an. Warum du? , schienen sie zu fragen. Warum du und nicht ich? Aber er wusste, dass das die Stimme seines schlechten Gewissens war.
Hätte Li-Li sprechen können, hätte sie gesagt: Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist, Joshy. Ich bin glücklich, dass einer von uns bei Daddy bleiben kann.
Chan verbarg sein Gesicht in den Händen und wandte sich dem ovalen Fenster zu. Er wollte sterben, er wünschte sich, er wäre im Fluss gestorben und Li-Li hätte an seiner Stelle überlebt. Er konnte dieses Leben keine Sekunde länger ertragen. Was hatte er schließlich noch von ihm zu erwarten? Im Tod wäre er wenigstens wieder mit ihr vereint gewesen …
»Chan.«
Das war Bournes Stimme. Aber er konnte es nicht ertragen, sich im zuzuwenden, ihm in die Augen zu sehen.
Er hasste ihn, und er liebte ihn. Er konnte nicht begreifen, wie das möglich war; er war schlecht darauf vorbereitet, sich mit dieser emotionalen Anomalie auseinander zu setzen. Mit einem erstickten Laut stand er auf, zwängte sich an Bourne vorbei und stolperte in der Kabine nach vorn, um ihn nicht mehr sehen zu müssen.
Mit unsäglichem Kummer beobachtete Bourne, wie
sein Sohn vor ihm flüchtete. Er musste fast übermenschliche Beherrschung aufbringen, um den Drang zu unterdrücken, ihn aufzuhalten, ihn in die Arme zu schließen und an seine Brust zu drücken. Aber er spürte, dass er im Augenblick nichts Ungeschickteres hätte tun können, dass diese natürliche Regung angesichts Chans Vorgeschichte zu erneuter Gewalt zwischen ihnen hätte führen können.
Er hegte keine Illusionen. Sie hatten beide einen steinigen Weg vor sich, bevor sie einander als Vater und Sohn anerkennen konnten. Vielleicht war das sogar eine unlösbare Aufgabe. Aber weil es nicht seine Angewohnheit war, etwas für unmöglich zu halten, verdrängte er diese beängstigende Vorstellung.
Vor Seelenqual erschauernd wurde ihm bewusst, warum er so angestrengt versucht hatte, die Möglichkeit zu leugnen, Chan könnte sein Sohn sein. Annaka – der Teufel sollte sie holen – hatte sein Dilemma genau erkannt.
In diesem Augenblick sah er auf. Chan stand über
ihm, und seine Hände umklammerten die Sitzlehne, als ginge es ums liebe Leben.
»Du hast gesagt, dass du erst vor kurzem erfahren hast, dass ich als vermisst gegolten habe.«
Bourne nickte.
»Wie lange hat man mich gesucht?«, fragte Chan.
»Du weißt, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Das kann niemand.« Bourne log instinktiv. Wenn er Chan erzählte, dass die zuständigen Stellen nur eine Stunde lang gesucht hatten, war damit nichts zu gewinnen, aber vielleicht viel zu verlieren. Er empfand das starke Bedürfnis, seinen Sohn vor der Wahrheit zu
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