Das Bourne-Vermächtnis
Bescheidenheit war eine unerlässliche Zier, wenn man um Spenden warb.
Obwohl er keinesfalls zu spät auf seinen Platz kommen wollte, ging er bewusst etwas langsamer, um keinen Augenblick dieser eigenartig elektrisierenden Zeit vor dem Einsetzen der Ouvertüre zu versäumen, die sein Herz jedes Mal höher schlagen ließ.
Da er sich gewissenhaft mit den Vorlieben der ungarischen Gesellschaft vertraut gemacht hatte, fühlte er sich als eine Art Opernkenner. Die Oper Háry János gefiel ihm wegen ihrer Musik, die auf ungarische Volksweisen zurückgriff, und der fast unglaublichen Geschichte, die der altgediente Soldat János erzählt: wie er die Tochter des Kaisers rettet, zum General befördert wird, Napoleon praktisch im Alleingang besiegt und schließlich das Herz der Kaisertochter gewinnt. Das Ganze war ein in die blutige Geschichte Ungarns eingebettetes schönes Märchen.
Letzten Endes war es sogar gut, dass er ein wenig später gekommen war, denn so konnte er mit Hilfe der Sitznummer, die Spalko ihm auf einem Zettel mitgegeben hatte, László Molnar identifizieren, der wie die meisten anderen schon auf seinem Platz saß. Soweit Hearn auf den ersten Blick feststellen konnte, war er ein mittelgroßer Mann mittleren Alters, ziemlich korpulent, mit vollem schwarzem Haar, das er mit Brillantine zurückgekämmt trug. Aus seinen Ohren und auf dem Rücken seiner grobknochigen Hände sprossen schwarze Borsten.
Er ignorierte die links neben ihm sitzende Frau, die sich ohnehin viel zu laut mit ihrer Begleiterin unterhielt. Der Sitz rechts neben Molnar war leer. Anscheinend war er ohne Begleitung in die Oper gekommen. Umso besser, dachte Hearn, als er seinen nicht besonders guten Parkettplatz einnahm. Wenig später wurde das Licht gedämpft, das Orchester spielte die Ouvertüre, und der Vorhang ging auf. Hearn überließ sich der Musik.
In der Pause, holte Hearn sich eine Tasse Schokolade und mischte sich unter die elegante Menge. Hier war die Evolution des Menschen zu besichtigen. Im Gegensatz zur Tierwelt waren die Weibchen eindeutig farbenprächtiger als die Männchen. Die Damen trugen Abendkleider aus Schantungseide, venezianischem Moiré und marokkanischem Satin, die erst vor wenigen Wochen auf Laufstegen in Paris, Mailand und New York vorgeführt worden waren. Die Herren, die meisten in Designersmokings, waren anscheinend damit zufrieden, ihre Gefährtinnen, die sich in Gruppen versammelten, zu umkreisen und ihnen bereitwillig Champagner oder heiße Schokolade zu holen, und wirkten ansonsten reichlich gelangweilt.
Hearn hatte die erste Hälfte der Oper genossen und freute sich auf den Schlussteil. Seinen Auftrag hatte er jedoch nicht vergessen. Tatsächlich hatte er sich während der Vorstellung überlegt, wie er die Sache angehen würde. Er ließ sich ungern ins Korsett eines festen Plans zwängen; stattdessen nutzte er lieber seinen ersten Eindruck von dem potenziellen Geldgeber, um sich eine Annäherungsmethode zurechtzulegen. Ein guter Beobachter konnte schon auf den ersten Blick viel erkennen. Achtete der Betreffende auf seine äußere Erscheinung? Aß er gern oder war essen für ihn nebensächlich? Rauchte oder trank er? War er kultiviert oder ungehobelt? Alle diese Faktoren und noch weitere ergaben einen Gesamteindruck.
Deshalb war Hearn zuversichtlich, dass es ihm gelingen würde, László Molnar ins Gespräch zu ziehen, als er nun an ihn herantrat.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Hearn in seinem bescheidensten Tonfall. »Als Opernliebhaber habe ich mich gefragt, ob Sie auch einer sind.«
Molnar hatte sich umgedreht. Er trug einen Armani-Smoking, der seine breiten Schultern betonte und seinen Schmerbauch geschickt kaschierte. Seine sehr großen Ohren waren aus der Nähe noch stärker behaart, als Hearn angenommen hatte. »Ich bin ein großer Freund der Oper«, sagte er langsam und leicht misstrauisch, wie Hearns geübtes Gehör ihm verriet. Hearn setzte sein charmantestes Lächeln auf und erwiderte den prüfenden Blick aus den dunklen Augen des anderen ganz unbefangen. »Ehrlich gesagt«, fuhr Molnar anscheinend beruhigt fort, »hat sie mich völlig in ihren Bann geschlagen.«
Das passt genau zu dem, was Spalko gesagt hat, dachte Hearn. »Ich habe ein Abonnement«, sagte er in seiner ungekünstelten Art. »Ich habe es seit einigen Jahren, und da ist mir natürlich aufgefallen, dass Sie auch eines haben.« Er lachte halblaut. »Ich kenne leider nicht allzu viele Opernfreunde. Meine Frau ist ein
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