Das Bourne-Vermächtnis
Georgetown. Im Norden ragten die modernen Türme der Hotelzeile auf – das ANA, Grand, Park, Hyatt und Marriott, dahinter das Rock Creek. Im Westen verlief die K Street, die am McPherson Square und dem Franklin Park vorbeiführte. Und im Süden lagen der Foggy Bottom, die weitläufige George Washington University und der massive Monolith des Außenministeriums. Und in weiter Ferne, wo der Potomac River nach Osten abbog und breiter wurde, um das stille Nebengewässer des Tidal Basins zu bilden, sah er ein silbernes Sonnenstäubchen: ein fast bewegungslos in der Luft hängendes Flugzeug, das hoch über den sich zusammenballenden Wolken von einem letzten Sonnenstrahl beleuchtet wurde, bevor es den Landeanflug zum Washington National Airport begann.
Chans Nasenlöcher weiteten sich, als habe er die Witterung seiner Beute aufgenommen. Der Flugplatz musste Bournes Ziel sein. Kein Zweifel, denn an Bournes Stelle wäre er jetzt auch dorthin unterwegs gewesen.
Das schreckliche Wissen, dass David Webb und Jason Bourne ein und derselbe Mann waren, hatte ihn in Gedanken beschäftigt, seit er gehört hatte, wie Lindros und seine CIA-Kollegen darüber sprachen. Allein die Vorstellung, Bourne und er hätten denselben Beruf, erschien ihm empörend: als Entweihung seiner ganzen Existenz, die er sich mühsam aufgebaut hatte. Er war’s gewesen –
und nur er allein –, der sich am eigenen Haar aus dem Sumpf des Dschungels gezogen hatte. Dass er jene hasserfüllten Jahre überlebt hatte, war allein schon ein Wunder. Aber zumindest hatte diese erste Zeit einzig und allein ihm gehört. Jetzt feststellen zu müssen, dass er sich die Bühne, die er zu erobern entschlossen war, ausgerechnet mit David Webb teilen musste, erschien ihm wie ein grausamer Scherz – und als himmelschreiende Ungerechtigkeit. Das war ein Unrecht, das möglichst schnell korrigiert werden musste. Jetzt konnte er’s nicht mehr erwarten, vor Bourne hinzutreten, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern und in seinem Blick zu sehen, wie diese Enthüllung ihn von innen zersetzte, während Chan ihn verbluten ließ.
Kapitel zehn
Bourne stand im Schatten des aus Stahl und Glas erbauten internationalen Abflugterminals. Der Washington National Airport war ein Tollhaus: Geschäftsleute mit Laptops und kleinen Rollenkoffern, Familien mit riesigem Gepäck, Kinder mit Micky-Maus-, Power-Ranger- oder Teddybär-Rucksäcken, ältere Leute in Rollstühlen, eine Gruppe Mormonenmissionare auf dem Weg in die Dritte Welt und Händchen haltende Liebespaare mit Flugtickets ins Paradies drängten und schoben sich durch die Halle.
Doch trotz des Gewühls hatten Flughäfen stets etwas Leeres an sich. Deshalb sah Bourne nichts als leeres Starren: den nach innen gerichteten Blick, mit dem der Mensch sich instinktiv gegen grässliche Langeweile abschottet.
Eine Ironie, die Bourne nicht entging, war die Tatsache, dass auf Flughäfen, wo das Warten eine Institution war, die Zeit stillzustehen schien. Nur nicht für ihn. Jetzt zählte jede Minute, denn sie brachte ihn der Liquidierung durch genau die Leute näher, für die er früher gearbeitet hatte.
In der Viertelstunde, die er nun schon hier war, hatte er ein Dutzend Verdächtige in Zivil gesehen. Einige patrouillierten in den Abflugbereichen und tranken aus Pappbechern Kaffee, als könnten sie so mit Zivilisten verwechselt werden. Die meisten standen jedoch in der Nähe der Check-in-Schalter der Fluggesellschaften und musterten die Fluggäste, die dort Schlange standen, um ihr Gepäck abzugeben und ihre Bordkarte in Empfang zu nehmen. Bourne erkannte fast augenblicklich, dass es für ihn unmöglich sein würde, an Bord einer Passagiermaschine zu gehen. Doch welche Alternative hatte er sonst? Er musste so schnell wie möglich nach Budapest.
Bourne trug eine beige Sommerhose, einen billigen durchsichtigen Regenmantel über einem schwarzen Rollkragenpullover und Top-Sider-Schuhe von Sperry statt der Laufschuhe, die er mit den übrigen Klamotten, die er im Wal-Mart getragen hatte, in einen Abfallbehälter gestopft hatte. Weil er dort erkannt worden war, hatte er sein Aussehen möglichst schnell verändern müssen. Aber nachdem er die Situation im Terminal begutachtet hatte, war er mit der Wahl seiner Garderobe ganz und gar nicht zufrieden.
Er wich den patrouillierenden Agenten aus, ging in die von feinem Nieselregen erfüllte Nacht hinaus und bestieg einen Shuttlebus, der ihn zum Frachtterminal bringen würde. Er setzte sich hinter
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