Das Bourne-Vermächtnis
Schläfen wie ein Gewicht, das unheilvoll proportional zur Länge seines Aufenthalts In dem Erdloch anwuchs.
Eine Finsternis, die der im Bauch von Rush Service Flug 113 nicht unähnlich war.
Und Jona betete zu dem Herrn, seinem Gott, im Leibe des Fisches. Und sprach: Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst, und er antwortete mir; ich schrie aus dem Bauche der Hölle, und du hörtest meine Stimme. Du warfst mich in die Tiefe mitten im Meer,, dass die Fluten mich umgaben; alle deine Wogen und Wellen gingen über mich …
An diese Stelle in der fleckigen, zerlesenen Bibel erinnerte er sich, aus der er auf Geheiß des Missionars vieles hatte auswendig lernen müssen. Grausig! Grausig! Denn in den Händen der feindseligen, mörderischen Roten Khmer war Chan buchstäblich in den Bauch der Hölle geworfen worden und hatte um Errettung gebetet, so gut er’s in seiner noch kindlichen Art vermochte. Das war vor der Zeit gewesen, in der ihm die Bibel aufgedrängt worden war, und bevor er die Lehren Buddhas verstanden hatte, denn er war in sehr jungen Jahren in ein formloses Chaos gestürzt worden. Der Herr hatte Jonas Gebet aus dem Bauch des Wals gehört, aber Chan war von
niemandem erhört worden. Er hatte in völliger Dunkelheit geschmachtet, und dann, als sie glaubten, er müsse jetzt weich genug sein, hatten sie ihn herausgeholt und mit kalter Leidenschaftslosigkeit, die er sich erst Jahre später aneignen würde, zu vernehmen begonnen.
Chan schaltete seine kleine Stablampe ein, blieb zunächst unbeweglich sitzen und starrte Bourne an. Dann streckte er ein Bein aus und trat so kräftig gegen die Schulter des Gefesselten, dass er ihm zugewandt auf die Seite rollte. Bourne stöhnte, und seine Augen öffneten sich mit flatternden Lidern. Er keuchte, holte erschaudernd tief Luft, atmete dabei wieder Kerosindämpfe ein und musste sich krampfartig erbrechen. Er übergab sich zwischen der Stelle, an der er in brennendem Schmerz und Elend lag, und jener, an der Chan heiter wie Buddha persönlich saß.
»Ich sank hinunter zu der Berge Gründen, die Erde hatte mich verriegelt ewiglich; aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt«, sagte Chan, der dabei Jona zitierte. »Du siehst beschissen aus.«
Bourne kämpfte darum, sich auf einem Ellbogen aufzurichten. Chan brachte ihn gelassen mit einem gut gezielten Tritt zu Fall. Bourne versuchte es erneut, und Chan trat ihm nochmals den Ellbogen weg. Aber beim dritten Versuch griff Chan nicht mehr ein, und Bourne setzte sich ihm gegenüber auf.
Um Chans Lippen spielte schwaches, rätselhaftes Lächeln, aber in seinen Augen flammte plötzlich Wut auf.
»Hallo, Vater«, sagte er. »Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, dass ich schon gefürchtet habe, wir würden diesen Augenblick nie genießen können.«
Bourne schüttelte leicht den Kopf. »Was soll das hei
ßen, verdammt noch mal?«
»Ich bin dein Sohn.«
»Mein Sohn ist zehn Jahre alt.«
Chans Augen glitzerten. »Den meine ich nicht. Ich bin der andere, den du in Phnom Penh zurückgelassen hast.«
Bourne war zutiefst gekränkt. Roter Zorn stieg in ihm auf. »Was fällt dir ein, dich für ihn auszugeben? Ich weiß nicht, wer du bist, aber mein Sohn Joshua ist tot.« Sein Aufbegehren kam ihn teuer zu stehen: Weil er wieder Kerosindämpfe eingeatmet hatte, krümmte er sich plötzlich nach vorn und würgte wieder, ohne jedoch etwas heraufbringen zu können.
»Ich bin nicht tot.« Chans Stimme klang fast zärtlich, als er sich jetzt vorbeugte und Bourne hochzog, damit sie sich wieder Auge in Auge gegenübersaßen. Dabei schwang der kleine Steinbuddha von seiner unbehaarten Brust weg und pendelte bei seinen Anstrengungen, Bourne aufrecht zu halten, ein wenig hin und her. »Wie du siehst.«
»Nein, Joshua ist tot! Ich habe seinen Sarg selbst in die Erde gesenkt – mit denen von Dao und Alyssa! Alle drei waren in amerikanische Flaggen gehüllt.«
»Lügen, Lügen und noch mal Lügen!« Chan hielt Bourne den aus Stein geschnittenen Buddha auf seiner Handfläche liegend hin. »Sieh ihn dir an und erinnere dich, Bourne.«
Bourne hatte das Gefühl, die Realität entgleite ihm. Er hörte den eigenen Herzschlag als donnerndes Brausen im Innenohr: eine Flutwelle, die ihn von den Beinen zu holen und mit sich zu reißen drohte. Das konnte nicht sein!
Das konnte nicht sein! »Wo … wo hast du den her?«
»Den kennst du, nicht wahr?« Der Buddha verschwand, als seine Finger sich darum schlossen. »Hast du endlich deinen
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