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Das brennende Gewand

Das brennende Gewand

Titel: Das brennende Gewand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Almut zurück zum Konvent zu begleiten.
    Er selbst jedoch nahm die schwere, farbenprächtig illuminierte Familienbibel aus der Truhe und schlug sie auf. Erstmals seit vielen Jahren gönnte er sich die beglückende Freude, die Worte Salomos wieder langsam und mit innigem Verständnis zu lesen. Anders als die keusche Begine hatte ihn das Leben gelehrt, ihren wahren Sinn zu deuten, und mit überwältigender Sehnsucht dachte er bei der Lektüre an die Hüterin des Weinbergs und daran, ihren verschlossenen Garten zu betreten und sich an den Früchten zu laben.

46. Kapitel
    Während der Herr vom Spiegel in dem Zimmer hoch über den Straßen der Minne gedachte, lagen drei andere Gestalten auf der Lauer im Schatten des Klosters von Groß Sankt Martin. Der Novize hatte Brot und Wasser gebracht und im Schutze seiner pummeligen Gestalt die Krumen auf dem Boden vor der Klause verstreut. Eine geschäftige Frau war vorbeigeeilt, vielleicht eine Hebamme, die zu einer Geburt gerufen worden war. Zwei Nordmänner, die auch an dem warmen Maiabend noch ihre pelzbesetzten Lederwämse trugen, schlenderten vorüber, auf der Suche nach einer Taverne, in der sie ihr Bier trinken konnten. Eine magere Katze strich dicht an der Kirchenmauer vorbei, in der Hoffnung, eine fette Maus jagen zu können. Zwei Hunde scheuchten sie mit Gekläff auf einen Baum und trotteten dann, zufrieden mit ihrem martialischen Einsatz, weiter durch die Gassen, um den allfälligen Abfall zu durchwühlen. Aus der Klosterkirche klangen die letzten Psalmen der Komplet, dann wurde es still in den Straßen, und die drei Wachsamen mussten Geduld aufbringen.
    Sie wurden belohnt.
    Durch die mondlose Dunkelheit bewegte sich ein Mensch in einem langen schwarzen Umhang. Sein Haupt war unter der Kapuze verborgen, seine Schritte lautlos. Er hielt an der Klause inne und begann mit leise zischelnder Stimme zu sprechen.
    Pitter, der sich in einem Hauseingang unsichtbar gemacht hatte, richtete sich auf und schlich wie auf Samtpfoten näher an den Sprecher. Die Schleuder war bereit, und als er die richtige Position gefunden hatte, schoss der Stein mit gezielter Kraft durch die Nacht.
    Benommen taumelte die Gestalt, doch sie brach nicht zusammen. Der dicke Wollstoff der Kapuze hatte den Schlag abgefangen.
    Den des derben Knüttels aber, der gleich darauf auf seinen Hinterkopf fuhr, milderte sie nicht.
    Zwei Männer packten den Gefällten an Schultern und Beinen, und im Laufschritt wurde er um die Ecke gebracht. Pitter war vorangeeilt und erwartete Hardwin und Leon bereits an der Tür, die Frau Nelda auf sein Zeichen hin geöffnet hatte.
    »In den Keller mit ihm«, flüsterte sie und reichte Pitter die Lederriemen.
     
    Im Schein zweier Fackeln betrachteten die drei kurz darauf ihre Beute.
    »Er ist es«, erklärte Hardwin. »Er ist der Kerl, den ich im Adler mit Ramon beobachtet habe.«
    Ein hagerer Mann, dem sicher schon weit über vierzig Winter die Haut gegerbt hatten, dessen Haupthaar sich gelichtet hatte und nur noch einen grauen Kranz um seinen Schädel bildete, lag auf dem Strohballen zu ihren Füßen. Seine Züge, entspannt in der Besinnungslosigkeit, waren nichtssagend, seine Kleider grau und unauffällig. In dem Beutel an seinem Gürtel befand sich nichts, was der Rede wert gewesen wäre, einige Münzen, ein Löffel mit eingeklapptem Stiel, ein Amulett zum Schutz auf Reisen, ein schmutziges Leinentuch, das nach Pech roch.
    »Wecken wir ihn auf und stellen ihm Fragen«, befahl Leon mit harter Stimme.
    Hardwin ohrfeigte den Mann kräftig, und er schlug mit einem Stöhnen die Augen auf.
    »Was du Ivo vom Spiegel in der Klause erzählen wolltest, würde uns auch brennend interessieren, Derich«, sagte Hardwin mit trügerisch ruhiger Stimme.
    »Wem? Was?«
    »Er ist verwirrt, Herr. Sollen wir das Brenneisen heiß machen?«
    »Es würde sein Erinnerungsvermögen gewisslich erheblich verbessern.«
    »Nein, nicht!«, jaulte der Gefesselte.
    »Würde es nicht? Oh, wir sollten es drauf ankommen lassen. Pitter!«
    Derich wand sich in seinen Fesseln.
    »Was wollt Ihr?«, keuchte er.
    »Sagte ich schon. Was hast du dem Herrn vom Spiegel zu vermelden?«
    »Nur, was man mir aufgetragen hat.«
    Hardwin und Leon tauschten einen Blick über seinem Kopf.
    »Wer hat dir Grüße an den Herrn aufgetragen, Derich?«
    Pitter reichte Hardwin mit großer Geste einen rotglühenden Schürhaken.
    Derich schluckte.
    Das Eisen näherte sich seinem Gesicht, sodass er die Hitze auf seiner Wange spüren

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