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Das brennende Gewand

Das brennende Gewand

Titel: Das brennende Gewand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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laufen.«
    Gehässig lachte die flüsternde Stimme vor der Klause.
    Pater Ivo verschränkte die Hände, bis die Knöchel weiß hervorstanden.
    »Du kannst nichts tun, Ivo. Sie werden sie in die Tollkammer stecken und binden. In ihrem Zimmer werden sie die verwesenden Leichen der Kinder finden, die sie aus den Gräbern gescharrt hat. Aber damit wollen wir noch ein wenig warten. Denn der schöne junge Mann tändelt um sie herum und weckt ihre Sehnsucht. Schon nennt sie ihn vertraulich bei seinem Namen. Leon, flüstert sie sehnsüchtig, und ihre Lider flattern, wenn sie ihn ansieht.«
    Die verknoteten Finger lösten sich, und ein kaum hörbares Stöhnen entfloh Pater Ivos Lippen. Es schien den Besitzer der Zischelstimme nicht zu erreichen, denn sie fuhr ungerührt fort: »Zu dumm nur, dass die aufsässige Begine das Augenmerk auf eine ungeschickte Magd gelenkt hat. Nun muss das Trampel leider verschwinden. Wir werden uns morgen darum kümmern und das, was von ihr übrig bleibt, an einer passenden Stelle hinterlassen.«
    Die Knöchel verschränkten sich wieder fest und wütend.
    »Du kannst auch da nichts tun, Ivo. Nichts, du bist hier eingemauert und sitzt fest. Das Herz deines Vaters wird immer schwächer, hört man. Es wird ihn nicht beglücken, die Leiche einer dummen Magd in seinem Hof vorzufinden.«
    Die gefalteten Hände drückten nun an die Stirn, wie um das Bild zu vertreiben, das die Stimme heraufbeschworen hatte. Sie kannte keine Gnade, den wahren Dolchstoß versetzte sie ihm mit den nächsten Worten: »Das Schicksal nimmt seinen Lauf, und du hast den Weg der Vernichtung gewählt. Ein weiser Entschluss, Ivo, den du nie gefasst hättest, wäre das echte Schreiben des Erzbischofs in deine Hände gelangt. So aber wirst du bald an den Toren der Hölle stehen, noch immer in Banden, ein Sünder ohne Reue.«
    Es war die jahrzehntelange Selbstbeherrschung, die Pater Ivo davon abhielt, eine unbedachte Bewegung zu machen und auch nur einen Laut auszustoßen.
    »Beeindruckt, Ivo? Oder bist du schon tot? Nein, das bist du nicht. Du streust weiterhin das gute Brot für die Vögel aus. Aber bald wirst du selbst dazu zu schwach sein. Und dann, Ivo, werde ich dir das kostbare Dokument in diese Klause werfen. Sie werden es finden, wenn sie einst dein Gerippe aus dem steinernen Sarg befreien und dich verscharren. Herr Ivo vom Spiegel, nun gehabt Euch wohl. Ich komme wieder, wenn sich die Dinge weiterentwickelt haben.«
    Das bösartige Zischeln verstummte, und Pater Ivo zitterte hilflos vor Wut. Umsonst, alles umsonst. Die Bösartigkeit jener, die ihn verfolgten, war ohne jede Grenzen. Sie machten ihn schuldig am Leid, ja sogar am Tod anderer. Sie machten ihn zum Mörder durch Untätigkeit. Die Bitterkeit stieg ihm in die Kehle, sein leerer Magen brannte wie Feuer, sein Körper verkrampfte sich bei der Erkenntnis, hilflos gefangen zu sein.
    Lange saß er, stumm, wie von innen heraus erfroren, in seiner Klause, hörte die Nachtwächter nicht die Stunde ausrufen, hörte das Lied der braun gefiederten Sängerin nicht, die dankbar für die Brotkrumen vor der Klause ihm aus voller Kehle ein Ständchen brachte, hörte die junge Stimme nicht nach ihm rufen, die ihm Trost spenden wollte. Er war in sich und seine Schuld versunken, verhärtet und erstarrt.
    Der Mond aber erhob sich über den Horizont, wanderte über die Stadt, und sein Licht brach durch die Wolken, just als sein Antlitz auf der Klause ruhte. Es schlich sich ein silbriger Strahl durch die schmale Öffnung und fand jene, die seinem Wandel gebot. Der Heiligenschein zwischen den ihn haltenden Hörnern begann heller und heller zu leuchten, und als die beiden Monde miteinander vereint waren, entfalteten sie ihre Macht.
    Ivo vom Spiegel blinzelte, als die unerwartete Helligkeit seine schmerzenden Augen traf. Er wollte die Quelle dieser Störung zur Seite räumen, doch dann hielt er inne.
    Die Statue, die seine Begine vor zwei Jahren aus den Trümmern eines alten Tempels gegraben hatte, dessen Steine sie für den Bau eines Stalls verwenden wollte, hatte er eigenhändig geweiht. In den Heiligenschein, die runde Scheibe über ihrem schönen Gesicht, hatte er ein Kreuz geritzt und es mit einem Strahlenkranz umgeben. Doch er wusste, dass diese Figur das Abbild einer sehr viel älteren Mutter war, die lange vor Maria geliebt und verehrt wurde. Damals, als er dies der Begine erklärt hatte, hatte er ihr auch geraten, sie möge sie, wenn sie in großer Not war, mit ihrem ursprünglichen

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