Das brennende Gewand
Namen rufen.
Er hatte lange gefastet, sein Körper war schwach und ausgezehrt, doch sein Geist erhob sich in einen kristallklaren Zustand der Erkenntnis.
Während seine Gedanken die Laute formten, mit der er den Geist der Statue rief, war ihm, als ob sie zu ihm zu sprechen begann.
»Ich bin die älteste Tochter der Zeit,
Ich erlege denen, die Unrecht tun, Strafe auf.
Bei mir ist das Gesetz.
Ich bin die Herrin des Krieges.
Ich bin die Herrin von Blitz und Donnerkeil.
Ich bin in den Strahlen der Sonne.
Was ich beschließe, wird ausgeführt.
Vor mir weicht alles zurück.
Ich löse, die in Fesseln sind.
Ich bin Siegerin über das Schicksal.
Mir gehorcht das Schicksal...«
Die alte Hymne, vor Zeiten in irgendeiner alten Schrift gelesen, nun erwacht aus den Tiefen der Erinnerung, verklang in dem Einsamen, und er verlor die Besinnung.
31. Kapitel
Almut war müde, und die stumpfsinnige Arbeit des Polierens kam ihr gerade recht. Sie kniete auf dem Boden der Kapelle und rieb mit kräftigen, gleichmäßigen Bewegungen über das glatte Holz. Immerhin hatte sie an diesem Samstagmorgen schon einige Dinge in die Wege geleitet. Sie hatte Nachricht an Leon gesandt und um ein Treffen gebeten, Frau Nelda Bescheid gegeben, dass sie im Laufe des Nachmittags vorbeikommen würde, kurz mit Pitter gesprochen, der nun wusste, wann die Nachtwächter ihre Runde um Groß Sankt Martin machten und dass jemand in der Dämmerung bei der Klause gestanden hatte, der längere Zeit auf den Inclusen eingeredet hatte. Wer es war, hatten die heimlichen Beobachter aber nicht erkennen können, noch nicht einmal, ob es Mann oder Weib war, denn die Gestalt hatte sich in einen weiten Kapuzenmantel gehüllt. Das klang nicht gut. Auch die Tatsache, dass die tollpatschige Magd an diesem Morgen ihrer Arbeit fernblieb, war bedenklich. Andererseits machte es die Annahme glaubhafter, dass man wirklich ein grausames Spiel mit ihr trieb und sie an ihrer geistigen Gesundheit nicht zu zweifeln brauchte. Auf der anderen Seite aber festigte sich in ihr dadurch auch die Erkenntnis, dass auch sie einer Bedrohung ausgesetzt war. Das war ihr deshalb besonders unheimlich, weil sie niemanden kannte, der ihr derart feindlich gesinnt sein könnte. Sicher, sie hatte mit Lena, der Pastetenbäckerin, einen heftigen Streit gehabt, aber sie hielt die dralle Frau nicht für so hinterhältig, ihr tote Kinder unterzuschieben. Das Kätzchen - ja, vielleicht. Außerdem war es nicht ungefährlich, sich diese kleinen Leichname zu besorgen. Jemand musste tatsächlich gute Beziehungen zu einer Hebamme oder einem Arzt haben. Sie nahm sich vor, Pitter danach zu fragen. Er kannte nicht nur die besseren Herbergen und gut geführten Badestuben, die zuverlässigen Barbiere und Kräuterhändler, sondern auch die heimlichen Häuser, die Baderhuren, die Engelmacherinnen und Giftmischer. Die dunkle Seite der Stadt war seinem jungen Leben nie verborgen gewesen, und er bewegte sich auf den finsteren Pfaden ebenso leichtfüßig wie auf den breiten Straßen.
Sie hatte gut die Hälfte des Bodens zu seidigem Glanz poliert, als Bela in der Tür erschien.
»Der junge Edelmann bittet, dich sprechen zu dürfen, hochedle Frau Almut«, verkündete sie mit einem dramatischen Knicks, der etwas an Anmut einbüßte, weil unter dem gerafften Rock schlammverschmierte, bloße Beine erschienen.
»Bleib ja vor der Tür stehen. Ich komme schon.«
»Ist der wohledlen Frau Almut nicht recht, wenn meine Füße denselben Boden berühren, auf dem du stehst, was?«
»Du hast den Stall ausgemistet, ich habe das Holz poliert. Beides sind sehr edle Aufgaben. War Fredegar hochnäsig zu dir?«
Bela kicherte. »Er ist ein feines Herrchen. Noch zwei, drei Jahre, und man möchte sich die Lippen nach ihm lecken wie nach einer knusprigen Wildschweinkeule.«
»Dann will ich mir mal anhören, was der Sonntagsbraten unter den Männern zu vermelden hat.«
Fredegar wartete im Hof auf sie und plauderte mit der Edlen von Bilk, die einen Korb voll Kräuter für Elsa geerntet hatte. Sie war sichtlich erfreut über das artige Benehmen des jungen Mannes. Doch als Almut näher kam, verabschiedete sie sich mit einem herzlichen Lächeln. Fredegar verbeugte sich vor der Begine, und seine Reverenz fiel bei Weitem eleganter aus als die der Pförtnerin.
»Folg mir ins Refektorium, Fredegar. Magst du einen Becher Apfelwein?«
»Danke, Frau Almut, gerne. Ich bringe wichtige Nachrichten«, sprudelte er hervor.
Sie wies ihm einen Platz am unteren
Weitere Kostenlose Bücher