Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
verließen 45 % der insgesamt 9,7 Millionen Auswanderer England, Wales und Schottland in der Zeit zwischen 1853 und 1920 mit dem Ziel der Vereinigten Staaten. Hinzu kam die große Zahl irischer Emigranten, die z.B. 1870 ein Drittel aller Einwanderer in die USA ausmachten.[ 27 ]
Wer eine Bilanz in Form einer buchhalterischen Gewinn- und Verlustrechnung aufstellen möchte, mag angesichts solcher Entwicklungstendenzen zu dem Schluß gelangen, daß sich für England die Investitionen in sein Empire nicht gelohnt hätten, bzw. überflüssig gewesen seien. Und tatsächlich haben eine Reihe von Historikern in jüngster Zeit Modelle entwickelt, mit denen sie nachzuweisen versuchen, daß speziell die imperiale Politik der britischen Regierungen des 18. Jahrhunderts letztlich verfehlt gewesen sei und dem Volk nur unnötige Kosten aufgebürdet habe.[ 28 ]
In der Tat haben sich die kolonialen Besitzungen und Eroberungen des älteren Empire für den britischen Staat nie unmittelbar rentiert, wie die zum Ende des 18. Jahrhunderts in bislang ungeahnte Höhen gestiegenen Staatsschulden bezeugen. Für Zinsen und Tilgung waren nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges 50 % des Steueraufkommens aufzuwenden, d.h. zehnmal soviel wie in den Jahren vor der Glorreichen Revolution. Dementsprechend wuchs die Belastung für den Steuerzahler, so daß zu Anfang des 19. Jahrhunderts nahezu 20 % des Nationaleinkommens als Steuern abgeschöpft wurden. Da Grundbesitz im Unterhaus überproportional vertreten war, blieb in dieser Situation die klassische direkte Steuer auf Land nahezu unverändert, und Steuererhöhungen wurden dort vorgenommen, wo die geringsten Widerstände zu erwarten und die Abgaben am leichtesten einzutreiben waren: im Bereich der indirekten Steuern auf inländische Produkte für den einheimischen Konsum, die vom Produzenten zu entrichten waren und für die dann die Verbraucher höhere Preise zahlen mußten. So finanzierten die Käufer von Tabak, Gin und Bier, von Kerzen, Seide, Seife und Leder sowie Hausbesitzer und die Eigentümer von Kutschen und Pferden den Löwenanteil der Staatsschuld und damit die Kosten für das Empire. Davon profitierten in erster Linie die Inhaber von staatlichen Schuldverschreibungen, ca. 200.000 wohlhabende englische Familien. Desgleichen bot das so finanzierte merkantile Empire privaten Interessen immer wieder Chancen für raschen Gewinn und unverhältnismäßigen Reichtum, sei es durch eine glückliche Hand bei riskanten Handelsgeschäften, durch die Produktion von konjunkturbegünstigten Waren, wie z.B. Zucker, oder durch den Erwerb einträglicher Posten, etwa bei der East India Company, wie das Beispiel jenes bereits erwähnten Thomas Pitt bezeugt. Allerdings zeigt die Geschichte des Empire auch, daß fast jede solche Unternehmung mit dem Risiko des Scheiterns verknüpft war: angefangen vom frühzeitigen Ende der ersten Virginia Company über den spektakulären Börsenkrach der aus Anlaß des Asiento gegründeten South Sea Company 1720 bis hin zu den britischen Firmen, die infolge der amerikanischen Unabhängigkeit ihren Bankrott erklären mußten.
Doch der Erfolg des älteren Empire lag jenseits aller kleinlichen Gewinn- und Verlust-Rechnungen in dem Großmachtstatus begründet, den England durch den Kampf um sein überseeisches Reich nach dem Siebenjährigen Krieg errungen hatte und der trotz des Verlustes seiner amerikanischen Besitzungen durch seinen Triumph über das napoleonische Frankreich schon bald erneut bestätigt wurde. Durch Handel, Seemacht und Kolonien – d.h. durch sein Empire – war England von einem Inselstaat am Rande Europas zur Weltmacht aufgestiegen. Und im Gegensatz etwa zu Spanien, das ein halbes Jahrhundert später mit dem Verlust seiner südamerikanischen Besitzungen zugleich seine Stellung als Kolonialmacht einbüßte, bildete die Separation der USA lediglich eine Zäsur in der langen Geschichte des Empire, die im 19. Jahrhundert einem neuen Höhepunkt zustrebte. Großbritannien blieb Weltmacht und überdauerte als solche das Ende seines älteren Empire, bis schließlich im 20. Jahrhundert die USA an seine Stelle traten, die ihrerseits das welthistorische Erbe dieses Empire sind. Denn unbeschadet ihrer nun mehr als zweihundertjährigen eigenen Geschichte sind die Vereinigten Staaten bis heute zu einem beträchtlichen Teil in ihren Institutionen, ihrer Ökonomie und ihrer Kultur durch ihre angelsächsischen Ursprünge geprägt, d.h. durch die Tatsache, daß
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