Das Buch aus Blut und Schatten
es ein zweites Mal und jetzt konnte ich die Sprosse packen und mich festhalten. Ich stieà mich ab und hing plötzlich in der Luft. Meine FüÃe suchten vergeblich Halt an der Wand, und die Muskeln in meinem Arm brannten, als ich versuchte, mich hochzuziehen. Klimmzüge waren noch nie meine Stärke gewesen. Adriane hätte das mit einer einzigen, eleganten Bewegung geschafft, dachte ich, ganz à la Cirque du Soleil. Sie hätte sich vermutlich mit einem Rad oder einem Flickflack auf die Leiter katapultiert und wäre dann mit der Leichtigkeit eines yogagestählten Affen nach oben geklettert. Aber ganz sicher hätte sie nicht so laut gestöhnt wie ich, während sie einen Zentimeter nach dem anderen an Höhe gewann, bis ihre FüÃe Halt fanden, das Fenster im Dachgeschoss ewig weit weg, aber rein theoretisch erreichbar.
Als meine FüÃe endlich festen Stand auf einer Eisensprosse hatten, beugte ich mich nach unten, um Eli heraufzuhelfen, doch er war gerade dabei, eine Mülltonne an den Fuà der Synagoge zu rollen. Er stellte sie aufrecht hin, kletterte darauf und sprang nach oben. Dann schwang er sich mit der Leichtigkeit eines Fassadenkletterers auf die Leiter und nur die angespannten Muskeln an seinem Hals verrieten, dass er sich überhaupt anstrengen musste.
Der Weg nach oben war einfach. Ich hätte Angst haben sollen, war aber ganz ruhig. Vielleicht lag es an der mondlosen Nacht, die das Ganze â an der Seite einer alten Synagoge nach oben zu klettern, das Fenster aufzustoÃen, leise auf den dunklen Dachboden zu steigen mit dem beleuchteten Display von Elis Handy als einziger Lichtquelle â zutiefst surreal wirken lieÃ. Vielleicht war ich auch noch nicht völlig aus meinem Traum erwacht.
»Da ist sie.« Ich führte Eli zu der Stelle, an der ich die Mezuzah gefunden hatte, in einem groÃen Holzschrank voller Kuriositäten, der in der hintersten Ecke des Dachbodens stand. Spinnweben strichen über mein Gesicht und in der Dunkelheit konnte ich mir nur zu gut vorstellen, wie die Viecher, die sie gewoben hatten, an meinem Bein hochkrabbelten oder sich von der Decke auf mich fallen lieÃen.
»GroÃartig. Schnapp sie dir und dann verschwinden wir von hier.«
»Das werde ich nicht tun. Dann würde ich sie ja stehlen.«
»Ja, klar, wenn sie uns ins Gefängnis werfen, wird sich unser Anwalt sicher darüber freuen, dass wir an diesem Punkt die Grenze ziehen.«
»Halt den Mund!« Ich nahm das schmale Kästchen aus Stein vorsichtig zwischen zwei Finger und öffnete den Verschluss an einem Ende. Im Innern hätte ich eine Schriftrolle mit Thoraversen finden müssen, doch als ich die Pergamentrolle aufwickelte, starrte mich Elizabeths vertraute Handschrift an â und noch etwas anderes. Ein winziger Lederbeutel, der von einer Kordel zusammengehalten wurde. Ich schüttelte den Beutel und da hörten wir das leise Rieseln loser Erde.
»Das gibtâs doch nicht«, keuchte Eli.
Hier, in meiner Hand, wie ein Säckchen Murmeln, war alles, was von einer physikalischen Unmöglichkeit übrig geblieben war: der Golem.
Ich hatte recht gehabt.
Irgendwo ging ein Alarm los. Eilige Schritte kamen die Treppe hoch.
»Wir müssen hier raus!« Eli riss mich hoch. Er schob mich durch das Fenster nach drauÃen und kam mir nach, wobei er mir fast seinen linken Fuà auf die Nase gedonnert hätte.
Unter uns brüllte jemand. Die Strahlen von Taschenlampen zuckten über den Bürgersteig.
Auf dem Dachboden ging das Licht an. Die Umrisse von mehreren Leuten wanderten am Fenster vorbei und wieder zurück. Auf der StraÃe unten liefen Sicherheitsbeamte um das Gebäude herum. Ich klammerte mich an die Eisensprossen, rang nach Luft und versuchte, die Männer unten durch reine Willenskraft zu zwingen, nicht nach oben zu sehen. Eiskalter Wind peitschte mir ins Gesicht. Ich versuchte, den Kopf unter meinen vor lauter Anstrengung schmerzenden Arm zu stecken, und gab mir alle Mühe, nicht nach unten zu sehen.
Es war eine beschissene Idee gewesen, die man nur mit Schwertschlucken oder Feuerjonglieren vergleichen konnte. Während der Wind meine nackten Finger, die von dem kalten Metall der Eisensprossen sowieso schon ganz taub waren, zu Eiszapfen erstarren lieÃ, sah alles danach aus, als würde das Ganze in einem Fotofinish zwischen Gefängnis und Tod enden, wobei Letzteres immer wahrscheinlicher
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