Das Buch aus Blut und Schatten
ein Unbekannter. Ich würde jetzt vermutlich in meinem Zimmer im Wohnheim sitzen und an einer Seminararbeit schreiben, wenn meine Eltern mich nicht gezwungen hätten, nach Chapman zu fahren. Aber als ich dort warâ¦Â«
»Was?«
»Ich weiÃ, wie es ist, wenn man in etwas reingezogen wird, mit dem man eigentlich nichts zu tun haben sollte«, erklärte er leise. »Wenn man nur in Ruhe gelassen werden will, ein normales Leben führen will und sie Einfach. Nicht. Aufhören . Das war alles, was Chris versucht hat. Normal zu sein. Du weiÃt, was mit ihm passiert ist. Und jetzt passiert es mit dir. Das ist nicht fair.«
Ich war nicht sicher, ob ich ihn beneiden oder hassen sollte, weil er so naiv war. Als ob fair irgendetwas zu bedeuten hatte. Das Leben machte, was es wollte, und in der Regel wollte es eine Menge ScheiÃe über einem auskippen. Wenn er das nicht wusste, sollte er diese Illusion ruhig noch eine Weile genieÃen.
»Dein Leben ist nicht normal?«, fragte ich. Plötzlich wurde mir bewusst, wie wenig ich über ihn wusste und dass ich mir gar nicht die Mühe gemacht hatte zu fragen. Er war Erstsemester an irgendeinem kleinen College in Maryland, sprach drei Sprachen â vielleicht auch noch mehr â, hatte einen seltsamen Geschmack, was Boxershorts anging, und⦠und das war auch schon alles.
»Meine Eltern sind von einem goldenen Zeitalter besessen, das es schon längst nicht mehr gibt«, erinnerte er mich. »Sie tun alles, um mich zu einem Inbegriff toter Traditionen zu machen, sie bestehen darauf, tschechisch zu sprechen, tschechisch zu kochen, jeden freien Zentimeter im Haus mit Bildern der âºgeliebten Heimatâ¹ zu tapezieren, pauken mir jeden Abend ein, was ich zu tun habe, wennâ¦Â« Er brach ab, dann lachte er. »Da gibtâs noch ein paar andere Sachen. Aber die spielen keine Rolle. Sagen wir einfach, dass mein Leben nicht gerade der Inbegriff von Normalität ist. Nicht, als ich noch ein Kind war. Und erst recht nicht jetzt.«
»Das tut mir leid.«
»Ich fahre hier nicht die Mitleidstour. Du wolltest es wissen. Jetzt weiÃt du es. Vielleicht gibt es gar keinen guten Grund. Vielleicht mache ich einfach nur mit, weil es eben so ist. Belassen wir es dabei.«
Ich zuckte mit den Schultern. So ganz klar war es mir immer noch nicht, aber Eli hatte recht: Er war mir nichts schuldig.
»Ich könnte dir von ihm erzählen«, schlug ich vor.
»Von wem?«
»Chris. Ich meine, wenn du willst.«
»Oh.« Er blieb wieder stehen, ganz plötzlich, als könnte er nicht über die Frage nachdenken und gleichzeitig seine Beine bewegen.
»Muss auch nicht sein.« Es war dumm gewesen, überhaupt so ein Angebot zu machen. Er hatte es ja selbst gesagt: Chris war für ihn ein Unbekannter. Ich beugte mich über das Geländer und starrte auf das Wasser unter mir, die Wolken über mir, die Stadt mit ihren hoch aufragenden Türmen vor mir, überallhin, nur ihn sah ich nicht an.
»Das wäre schön«, sagte er, während er sich zu mir nach vorne beugte. Unsere Schultern berührten sich. »Wenn du willst.«
Ich erzählte ihm von Chrisâ erster Meisterschaft im Basketball und wie er nachts um zwei nach einer feuchtfröhlichen Feier unter dem Fenster meines Zimmers aufgetaucht war, zu betrunken, um sich daran zu erinnern, dass er nicht zu mir nach Hause kommen sollte, dass niemand das durfte, und mich zu einem Spiel in der Einfahrt herausgefordert hatte, wo seit fünf Jahren ein Basketballring vor sich hin rostete und nicht benutzt wurde. Ich erzählte ihm von Chrisâ und Adrianes erstem offiziellem Date, von dem grottenschlechten Film, bei dem sie â nach einem anstrengenden Kajakausflug mit der Schule am Nachmittag â fast eingeschlafen wäre und er â weil er sich irgendwo einen Magenvirus eingefangen hatte, der ihn dann eine Woche lang ans Bett gefesselt hatte â sich irgendwann auf ihre Lieblingssandaletten übergeben hatte. Ich erzählte ihm, mit einigen Fehlstarts, den schmutzigen Witz, den Chris am liebsten gemocht hatte, den mit dem Barkeeper, den Affen und den Golfbällen. Ich gestand ihm, dass es Chris gewesen war, der mich und Max letztendlich zusammengebracht hatte, obwohl es vorher immer Adriane gewesen war, die mich dazu gedrängt hatte. Nach unserem ersten offiziellen Date â das keine ausgesprochene Katastrophe gewesen
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