Das Buch aus Blut und Schatten
war, aber doch irgendwie peinlich und schräg, einschlieÃlich ungeschickter Fummeleien, gestelzter Fragen und einer für unsere Nasen schmerzhaften Fortsetzung unseres ersten Kusses â war es Chris gewesen, der mir versichert hatte, dass ich mich nicht komplett zum Idioten gemacht hätte und dass ich keinen Fehler gemacht hätte; es war Chris gewesen, der mir gesagt hatte, dass ich etwas Besseres verdient hätte, als allein zu sein, und Max fast gut genug sei, um mich verdient zu haben.
Eli war ein Fremder, aber ich erzählte ihm alles. Ich konnte einfach nicht aufhören zu reden, erst, als ich ihm begreiflich gemacht hatte, wie sich Chrisâ Augenbrauen verzogen â asymmetrisch â, wenn er auf die Pointe eines Witzes wartete, und ihm seine verschiedenen Lächeln erklärt hatte, glücklich, überrascht, aufgeregt, entschuldigend, verliebt, weil jedes völlig anders war und weil jedes genauso leicht zu erkennen war wie seine Gesichtsausdrücke. Normalerweise musste ich mich zusammenreiÃen, bevor ich seinen Namen aussprechen konnte, doch dieses Mal nicht. Dieses Mal war es ganz einfach. Ich erzählte Eli, dass Chris frischen Brokkoli hasste, ihn aber ganz gern aÃ, wenn er gekocht war, und dass er dachte, er könnte mit den Ohren wackeln, obwohl das gar nicht stimmte und wir ihn in dem Glauben lieÃen. Er mochte Liebeskomödien, sagte ich zu Eli, aber nur die, in denen das Aschenputtel den Traummann kriegt oder die Sportskanone ihren inneren Nerd entdeckt, und nur, wenn er allein war und nicht die Gefahr bestand, dass ihn jemand dabei erwischte. Er mochte die New York Knicks, die Eagles, die Red Sox und aus Prinzip keine Hockeymannschaft, weil das für ihn kein ernst zu nehmender Sport war.
Solange ich redete, würde Chris real sein.
Und so beschrieb ich bis ins letzte Detail den Ausdruck auf dem Gesicht der Mathevertretungslehrerin, als Chris und Adriane mitten im Unterricht zu knutschen anfingen, nachdem sie der armen Frau â mithilfe der gesamten Klasse â eingeredet hatten, sie wären Halbgeschwister. Aber irgendwann hatte ich keine Worte mehr und Chris war wieder tot.
Erst als ich zu reden aufhörte, fiel mir auf, dass Elis Hand auf meiner lag.
Ich zog meine Hand weg.
Wir gingen weiter. »So, so. Inzest im Matheunterricht«, meinte er. Etwas war anders zwischen uns. »Beeindruckend.«
»Ich hätte nie gedacht, dass das funktioniert. SchlieÃlich steht Adriane das Einzelkind quasi auf der Stirn.«
»Ist das nicht merkwürdig? Dass ihr alle Einzelkinder seid? Glaubst du, da ist irgendein unterbewusster psychologischer Magnetismus im Gang, so was wie eine postjungianische Suche nach familiären Bindungen?«
Ich gab ihm keine Antwort.
»Willst du nicht wenigstens so tun, als würde dich das Psychogeschwafel aus meinem Grundkurs beeindrucken?«, fragte er.
Ich weià nicht, warum ich es ausgerechnet jetzt sagte. »Ich bin kein Einzelkind. Ich meine, ich war keins.« Ich ging schneller, blieb immer einen Schritt vor ihm, den Blick starr geradeaus gerichtet. »Früher.«
Eine Pause. »Bruder oder Schwester?«
»Bruder. Ãlter.« Ich schluckte. »Andy.«
Ich wartete.
Eli sagte nichts.
SchlieÃlich verlor ich die Geduld und zwang mich, ihn anzusehen. Seine geballten Fäuste sahen so verkrampft aus wie sein Gesicht.
»An dieser Stelle sagt man normalerweise so was wie âºdas tut mir leidâ¹.«
»Dein älterer Bruder ist gestorben?« Er klang irgendwie merkwürdig. Total erschrocken vielleicht, aber ich hatte eine Menge Erfahrung mit Leuten, die es einfach nicht in ihr Hirn bekamen, dass die Mühsal des Irdischen jederzeit ein Ende haben konnte. Ich war Expertin für total erschrocken , aber das hier klang anders. Das hier hörte sich fast so an wie⦠Angst.
»Ja. Er ist gestorben. Ist schon etwas her. Vergiss, dass ich was gesagt hab.«
»Nein, ich meine, es tut mir leid⦠es tut mir wirklich leid⦠Du hast mich nur so überrascht. Das ist alles. Willst du⦠darüber reden?«
Jetzt nicht mehr.
»Was hältst du davon, wenn wir eine Weile gar nicht mehr reden?«, schlug ich vor.
Er protestierte nicht und dieses Mal war er es, der schneller ging. Seine langen Beine flogen über das Kopfsteinpflaster, sodass ich fast joggen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Nach ein paar quälend schweigsamen Minuten hatten wir
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