Das Buch aus Blut und Schatten
keine Spur, sondern eher eine Sackgasse. Weil ich mir irgendwie dumm vorkam, klappte ich das Buch zu. Und dabei spürte ich etwas. Der Ledereinband war unglaublich weich und im Laufe der Jahrhunderte ganz glatt geworden. Doch mein Daumen hatte eine raue Stelle auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels bemerkt. Nein, das war keine raue Stelle, wie mir klar wurde, als ich genauer hinsah. Es war eine Naht. Von dem dunklen Leder hob sich ein leicht verfärbter quadratischer Flicken ab, an dessen Rändern eine dünne Naht verlief, eine gute, aber nicht ganz perfekte Reparatur, als hätte jemand ein Loch im Einband verbergen wollen. Oder etwas anderes.
An meinem Schlüsselbund hing ein Flaschenöffner und dieser Flaschenöffner hatte eine Kante, die scharf genug war, um eine aus dem 16. Jahrhundert stammende Naht aufzuschlitzen. Der Hoff schnarchte immer noch; Chris und Max waren immer noch mit ihrem geistigen Wettstreit beschäftigt. Niemand sah mir zu.
Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, ein vierhundert Jahre altes Buch zu verunstalten. Das wäre verrückt gewesen. Für so etwas landete man zwar nicht im Gefängnis, aber ich war sicher, dass der Hoff es zumindest versucht hätte. Am klügsten wäre es natürlich gewesen, ihm das Buch zu bringen und auf die Naht im Einband hinzuweisen, auf die leicht erhabene Stelle, die so aussah, als wäre dort etwas hineingeschoben worden. Aber:
Diese Seite, Thomasâ Seite, gehört mir.
Die Naht lieà sich ohne Weiteres auftrennen, der dünne Lederflicken löste sich. Um ein Haar hätte es mir den Atem verschlagen. Auf dem Leder des Einbands lag ein zusammengefaltetes Stück Papier. Ich stupste es vorsichtig mit dem Finger an und rechnete schon fast damit, dass es zu Staub zerfiel, spätestens dann, wenn ich versuchte, es auseinanderzufalten. Elizabeth hatte dieses Stück Papier gefaltet und in ihr Lieblingsbuch genäht, wo es vier Jahrhunderte lang überdauert hatte, ohne von jemandem entdeckt und berührt zu werden. Sie war die Letzte gewesen, die es in den Händen gehalten hatte, und jetzt war ihr Geheimnis meines.
Vorsichtig, ganz vorsichtig faltete ich das Papier auseinander. Es waren zwei Seiten, die ineinandergelegt worden waren, und als mir klar wurde, was ich da vor mir hatte, stockte mir tatsächlich der Atem. Das eine Blatt war eng mit einem lateinischen Text beschrieben, Begriffe, die ich noch nie gesehen hatte, acqua fortis, sal ammoniac, Namen, die wie Chemikalien klangen, dazu MaÃangaben, etwas, das wie eine komplizierte Formel aussah. Daneben sah ich die grobe Skizze einer sonderbaren Pflanze mit einem spiralförmig gedrehten Stängel und sechs spitz zulaufenden Blättern, die um ein siebtes, rundes Blatt angeordnet waren. Doch es war nicht die Formel oder die Zeichnung, die meine Aufmerksamkeit erregten. Mein Blick blieb an der zweiten Seite hängen, deren Schrift weder Latein noch eine andere mir bekannte Sprache war. Sie bestand aus Symbolen, deren Bedeutung ich nicht kannte, die mir aber vertraut vorkamen. Waren das nicht die Symbole, die ich jedes Mal angestarrt hatte, wenn ich am Schreibtisch des Hoff vorbeiging, über dem ein groÃes Faksimile einer Voynich-Manuskriptseite hing?
Der Text war auf beiden Seiten gleich angeordnet, auch die sonderbare Zeichnung war zweimal an derselben Stelle vorhanden. »Chris? Max?« Ich schluckte heftig und versuchte, den Frosch aus meiner Kehle zu bekommen. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden.«
17 Das im Jahr 1912 aufgetauchte Voynich-Manuskript stellt seit über einem Jahrhundert Historiker, Linguisten und Kryptografen vor ein Rätsel und hat mindestens einen von ihnen in den Wahnsinn getrieben. Der Text auf den zweihundertvierzig Seiten ist in einer Sprache geschrieben, die aus zwanzig bis dreiÃig verschiedenen Glyphen besteht, scheinbar willkürlich angeordnete, mit Tinte geschriebene Zeichen, die den Leser in die Irre führen sollen. Linguistische Analysen lassen jedoch darauf schlieÃen, dass die Symbole eine Sprache bilden â möglicherweise eine, die noch nicht entdeckt wurde.
Einige halten das Manuskript für eine Fälschung aus dem 20. Jahrhundert, allerdings konnte sein Ursprung mittels Radiokarbondatierung auf das 15. Jahrhundert festgelegt werden. Der Hoff ging davon aus, dass es sogar noch älter war. Was die Spekulationen um das Voynich-Manuskript anging, gehörte der Professor zu
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