Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
Vom Netzwerk:
ihn mir genommen hat, ich hasse das Lumen Dei dafür, dass es mir alles andere genommen hat. Vergib mir, Bruder! Meine Worte sind so wahr wie boshaft und doch sagen sie nicht alles. Denn am meisten hasse ich mich selbst.
    Es ist getan, die Welt ist entzwei und ich sehe keinen Ausweg. Ich kann die Seiten nicht wieder mit dem Buch vereinen, aus dem sie herausgerissen wurden, ich darf es nicht. Gottes Wissen muss für den Menschen auf ewig unerreichbar bleiben. Dessen bin ich mir sicher, selbst wenn ich sonst nichts weiß. Und doch lockt mich das Lumen Dei. Die Maschine ist eine Verheißung, ein Pakt mit dem Teufel zu einem frommen Zweck, und ich fürchte, ich bin nicht stark genug, um der Versuchung zu widerstehen.
    Das ist alles, was von unserem Vater bleibt: die Maschine, die sein Genius ersonnen hat, und die Worte, mit denen er meine Hände aus dem Jenseits geführt hat. Ich studiere sie oft, ich stelle mir vor, wie er auf dem Boden seiner Zelle lag und mit schneller Feder die Worte Gottes übersetzte. Die Engel gaben ihm ihre Namen und er gab sie mir; dieser bedeutet Wasser, jener Luft, dieser Gefahr, jener Verstoß. Liebster Bruder, hast Du ihn je darum beneidet und Dir gewünscht, auch Du könntest die Engel mit solcher Klarheit hören? Neid ist Schwäche, hat uns unser Vater gelehrt, und doch weiß ich, dass er Bacon beneidete, obwohl er es nie zugegeben hat. Unser Vater sprach mit Engeln, doch Bacon sprach mit Gott.
    Auch wenn unser Vater von uns gegangen ist, scheinen die Seiten immer noch ihm zu gehören. Alle bis auf eine. Diese eine enthält die Anweisungen für Thomas und eine Weile trug er sie immer bei sich, egal, wohin er ging. Ihr entströmt noch der vertraute Geruch aus seinem Laboratorium, nach beißendem Rauch, verbrannten Metallen, bitteren Dämpfen. Diese Seite, Thomas’ Seite, gehört mir. Sie ist alles, was mir von einer verlorenen Zukunft geblieben ist, und wird ihr Heim finden bei Petrarca, jenem Dichter, der mich gelehrt hat, dass meine Liebe für immer bei dem bleiben wird, der sie zu sprechen mich gelehrt hat.
    Die Zeit drängt und ich muss eine Entscheidung treffen. Ich beschwöre Dich wie so oft, sorge Dich nicht um mich, doch dieses Mal begründe ich meine Bitte nicht mit meiner Stärke oder meinem Mut, sondern einzig und allein mit der Tatsache, dass einen nichts mehr kümmert, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Mir scheint, alles, was ich noch verlieren kann, bist Du, mein geliebter Bruder, und deshalb musst Du Dir Deine Sorgen für Dich selbst aufsparen.
    Prag, 27. April 1599
    Es ergab nicht viel Sinn. Elizabeth erwähnte »das Geschenk der Griechen«, mit dem – wie ich nach Jahren des Übersetzens wusste – das Trojanische Pferd gemeint war. Das Lumen Dei, was immer das auch sein mochte und was für ungeahnte Reichtümer es auch versprochen haben mochte, hatte genau das Gegenteil bewirkt. Chaos und Desaster, eine Welt in Trümmern.
    Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie eine Maschine aussehen sollte, die »heilige Antworten« und »die letzte Wahrheit« versprach – als ich es trotzdem versuchte, musste ich unwillkürlich an diese Wahrsager-Automaten auf dem Jahrmarkt denken, in denen eine Puppe sitzt, die einem die Zukunft voraussagt –, doch ich verstand nur zu gut, was sie verursacht hatte: Kummer. Jene reizende Mischung aus Verwirrung, Schuld, Selbstzweifeln, Was-wäre-wenn-Fragen, Bedauern wegen einer unveränderbaren Vergangenheit und Ohnmacht angesichts einer wenig verheißungsvollen Zukunft. Ich wusste auch, wie so etwas funktionierte. Es war reine Physik: Verlust zieht Verlust nach sich.
    Es reicht, sagte ich mir. Du klingst ja schon wie sie. Der Brief war kein Hilferuf eines im 16. Jahrhundert lebenden Mädchens auf der Suche nach einem Seelenklempner des 21. Jahrhunderts. Er war eine Spur.
    Ich zog die Sonette von Petrarca aus dem Beutel, in dem das Buch aufbewahrt wurde, und blätterte vorsichtig durch die vergilbten Seiten. Der Text war kaum noch zu entziffern. Einige der Gedichte waren unterstrichen oder von einem Kreis umgeben, doch ich fand keine Notizen im Rand, die mir hätten sagen können, warum sie wichtig gewesen waren. Und da ich kein Italienisch konnte, half mir der Text auch nicht weiter.

    Trovommi Amor del tutto disarmato
et aperta la via per gli occhi al core,
che di lagrime son fatti uscio et varco.
    Vielleicht war es gar

Weitere Kostenlose Bücher