Das Buch aus Blut und Schatten
das beleuchtete Display auf die Glasscheibe neben der Tür. Sie war eingeschlagen. Die Ãffnung war gerade so groÃ, dass jemand die Hand hindurchstecken, den Riegel zurückschieben und den Knauf herumdrehen konnte. »Hier war jemand.«
Mich fröstelte.
»Das kann auch der Wind gewesen sein«, meinte Max.
»Warum sagt man das immer? Das war der Wind. Wie soll der Wind eine Glasscheibe einschlagen?«
»Vielleicht hat er einen Ast gegen das Fenster geweht. Oder jemand hat einen Stein geworfen. Ich weià es nicht.« Max klang etwas genervt.
»Das war nicht der Wind.« Ich hielt mein Telefon näher an die eingeschlagene Scheibe und richtete das Licht auf etwas, das ich lieber nicht gesehen hätte.
An den Glasscherben klebte Blut.
15 Jemand war in der Kirche gewesen; jemand hatte eingebrochen.
Ein Obdachloser, schlug Max vor. Ein begriffsstutziger Vogel, vermutete Chris später. Adriane tippte auf jemanden, der Weihnachten hasste und etwas zu früh dran war. Der Hoff hatte keine Meinung, weil der Hoff es nie erfuhr. Wir befürchteten â was heiÃen soll, dass Chris und Max das befürchteten und ich aus welchem Grund auch immer keinen Versuch unternahm, sie umzustimmen â, der Gedanke an blutverschmierte Eindringlinge in der Kirche würde den Professor dazu bringen, komplett vor seinem Verfolgungswahn zu kapitulieren. Manchmal denke ich darüber nach, was passiert wäre, wenn wir nicht den Mund gehalten hätten.
Aber wir hielten den Mund.
16 Lumen Dei. Max fragte zwar nicht mehr danach, doch die beiden Wörter bekam ich nicht mehr aus dem Kopf. Ich verband sie in Gedanken mit jener Nacht, mit den Geräuschen in der Dunkelheit und dem blutverschmierten Glas. Aber ich wusste, dass ich sie schon mal irgendwo gesehen hatte. Google hatte nur ein paar Treffer, die zu Texten aus der Zeit der Renaissance führten, von Leuten, deren Namen es noch nicht einmal in Wikipedia geschafft hatten, geschweige denn in mein Lehrbuch über europäische Geschichte. Daher beschäftigte ich mich wieder mit den Briefen, wobei ich mir nicht sicher war, ob ich nach der Antwort suchte, um Max zu beeindrucken oder um schneller zu sein als er.
Es war an einem bewölkten Nachmittag, einem jener typischen Tage im spätherbstlichen New England, an denen man am bleigrauen Himmel unwillkürlich nach den ersten Anzeichen für den Winter suchte. Chris und Max waren mit der Renaissance Concordia beschäftigt und diskutierten gerade die Herkunft eines Verweises auf Machiavelli. Der Hoff war tatsächlich einmal gekommen und saà am Schreibtisch, doch den Schnarchgeräuschen nach zu urteilen, die hinter der letzten Ausgabe einer Fachzeitschrift für Mediävistik und neuere Geschichte hervordrangen, war seine Anwesenheit reine Formalität.
Ich blätterte vorsichtig durch die alten Briefe, wobei ich nicht einmal wusste, wonach ich eigentlich suchte, bis ich es gefunden hatte, fast ganz hinten in dem Stapel Briefe.
E. I. Westonia, Ioanni Francisco Westonio, fratri suo germano S.P.D.
Forsitan hoc dicere blasphemia est, sed Lumen Dei non est donum divinum.
Beim Indexieren der Briefe musste ich die Zeile irgendwann einmal überflogen haben. Als ich den Brief übersetzte, war der graue Himmel violett geworden und der Hoff lag schon längst auf der abgenutzten Couch. »Weitermachen«, hatte er mit halb geschlossenen Augen gemurmelt, als er sich von einer Schlafstätte zur nächsten begeben hatte. »Es gibt viel zu tun.«
E. J. Weston grüÃt ihren Bruder John Francis Weston.
Es mag Blasphemie sein, das zu sagen, doch das Lumen Dei ist kein Geschenk Gottes. Die VerheiÃung unermesslicher Macht, heiliger Antworten, gottgleicher Fähigkeiten und der letzten Wahrheit, all das sind mächtige Verlockungen. Doch man kann gewiss auch zu viele Opfer bringen. Jene, die ihr Leben weggeworfen haben, um uns aufzuhalten, die das Ende der Welt vorausgesagt haben, haben jetzt Genugtuung aus dem Jenseits heraus erhalten. Denn das Lumen Dei vermag tatsächlich, die Welt in den Untergang zu stürzen. Es ist ein Geschenk, doch wie das Geschenk der Griechen verbarg es den Feind in sich.
Ich hasse ihn. Nie hätte ich gedacht, dass ich diese Worte einmal sagen würde, doch jetzt brenne ich darauf, sie in die Nacht hinauszuschreien. Ich hasse unseren Vater. Ich hasse ihn dafür, dass er es erfunden hat, ich hasse den Kaiser dafür, dass er
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