Das Buch aus Blut und Schatten
konnte; meine Mutter, deren gute Absichten stets gröÃer waren als ihr Wille, ging immer am nächsten Tag mit einem Kater von den Beruhigungsmitteln und frischen Pfingstrosen als BuÃe. Das hatte den Vorteil, dass ich den ganzen Tag über freie Bahn hatte.
Ich mochte den Friedhof. Am westlichen Rand zog sich ein Radweg entlang und als Kinder waren Andy und ich immer wie die Wilden an den Gräbern vorbeigerast, um möglichst schnell aus der Gefahrenzone zu kommen, und manchmal, vor allem in der Dämmerung, in jener Stunde vor dem Abendessen und nach Sonnenuntergang, waren wir als Mutprobe über den Zaun gesprungen und auf Geisterjagd gegangen. Doch bei Tag war der Friedhof von Chapman ein Ort, an dem man sich Mühe geben musste, um Angst zu haben. Er war viel zu sonnig und idyllisch, viel zu langweilig mit seinem frisch gemähten Gras, den ordentlich geschnittenen Hecken, den perfekt ausgerichteten und sorgsam gepflegten Gräbern. Es gefiel mir dort besser, als man hätte meinen können, vor allem, wenn ich die einzige Besucherin war und mit Andy allein sein konnte.
Wenn ich an ein Leben nach dem Tod geglaubt hätte, an einen Himmel, in dem harfespielende Engel die Cheerleader-Truppe für die Spiele toter Baseballspieler waren, hätte ich mir vorstellen können, wie Andy jetzt dort oben Chris herumkommandierte und ihm alles zeigte. Meine Fantasie war das Einzige, was mir noch geblieben war. Nach dem Unfall hatte ich versucht, an all das zu glauben â an irgendetwas zu glauben. Ich konnte nicht.
Ich besuchte Andys Grab nicht, um mit ihm zu reden. Ich brachte ihm nicht einmal Blumen mit.
Das hatte schon jemand anders getan.
Vor dem Grabstein stand ein frischer BlumenstrauÃ, allerdings nicht die Pfingstrosen meiner Mutter, die zur Abwechslung einmal pünktlich gekommen wären, und auch keine gelben Rosen. Es waren Maiglöckchen, die einzigen Blumen, die ich mochte â und das war etwas, was nur Max wusste, denn er hatte sich die Mühe gemacht, mich danach zu fragen.
Denk nicht mal dran.
Neben den Maiglöckchen lehnte eine Postkarte an dem grauen Stein, mit der Schriftseite nach unten. Es war die Handschrift von Max.
Ich wirbelte herum, weil ich glaubte, er würde hinter mir stehen, mit geröteten Wangen und einem bedauernden, aber echten Lächeln auf den Lippen. Da war niemand. Aber die Blumen waren frisch. Er war hier gewesen. Vielleicht war er immer noch da, irgendwo, und beobachtete mich. Vielleicht hatte er aus irgendeinem Grund Angst und wollte sich nicht zu erkennen geben. Max wusste nichts von Andy. Jedenfalls hätte er nichts von Andy wissen sollen. Es kam mir unpassend und völlig sinnlos vor, auf Chris wütend zu sein, weil er seine groÃe Klappe aufgerissen hatte, was die einzige Erklärung war. Aber ich war trotzdem wütend. Und dankbar.
Irgendwann hatte ich aufgegeben, Max anzurufen, doch jetzt versuchte ich es wieder und dieses Mal läutete es nicht einmal. »Kein Anschluss unter dieser Nummer«, sagte eine Stimme. Es spielte keine Rolle.
Max lebte.
19 CASTOREM NON PVTO DEVM INCVRIA.
NAM SVM EGO ACTVS VEHEMENS AVLA.
Ich fertigte eine schnelle Rohübersetzung an:
Ich hielt Castor nicht aus Nachlässigkeit für einen Gott. Denn ich habe stürmisch gehandelt und wurde seines Tempels verwiesen.
So ging es mehrere Zeilen weiter. An keiner Stelle stand etwas, das auch nur im Entferntesten einen Sinn ergeben würde.
Die Nachricht war nicht unterschrieben.
»Was willst du mir damit sagen?«, rief ich laut.
Die Postkarte antwortete nicht.
Auf der Vorderseite war ein Foto, das eine Steinfigur vor einem strahlend blauen Himmel zeigte, einen Heiligen, der auf einem dreigeteilten Sockel stand und ein Kreuz in den Armen hielt. Die Bildunterschrift war in einer mir unbekannten Sprache geschrieben. Es ergab keinen Sinn, dass er mir eine Postkarte mit einer Nachricht in verschlüsseltem Latein schrieb oder dass er sie auf dem Grab eines toten Bruders zurücklieÃ, von dessen Existenz er nichts hätte wissen sollen, so wie es auch keinen Sinn ergab, dass Max lebte und in der Nähe war, sich aber vor mir versteckte. Es gab nur eines an der Karte, das für mich einen Sinn ergab, etwas, das ich wiedererkannte, obwohl ich es nicht wollte. Es war das Symbol, das Auge mit dem Blitz. Max hatte es rechts unten in die Ecke der Postkarte gemalt und darunter hatte er in Druckbuchstaben ein weiteres lateinisches
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