Das Buch aus Blut und Schatten
Wort geschrieben, das einzige auf der Postkarte, dessen Bedeutung klar war.
Reus.
Der Schuldige.
Er wusste, wer Chris getötet hatte. Und er versuchte â was? War es eine Warnung? Wollte er mich um Hilfe bitten, sollte ich irgendwie vermitteln, damit ihm ein ähnliches Schicksal erspart blieb? Woher sollte ich wissen, dass er mir nicht ein Rezept für Schokoladenkekse hinterlassen hatte?
Was für ein Schwachkopf schreibt ein SOS in Code?
Max hätte mir keinen Code geschickt, wenn er nicht genau gewusst hätte, dass ich ihn entschlüsseln konnte. Was bedeutete, dass ich nach Hause musste, um mich an die Arbeit zu machen. Um ein Haar wäre ich über den Friedhof gerannt, die Augen auf die Postkarte gerichtet â nicht auf die frustrierenden Worte, sondern auf die vertraute Form der Buchstaben, die Bestätigung dafür, dass er noch auf dieser Welt war und nicht irgendwo, sondern in der Nähe â, und das war mein Fehler, denn wenn ich langsamer gegangen oder länger am Grab geblieben wäre, wäre ich auf dem Weg zum Ausgang nie mit Eli Kapek zusammengestoÃen, ich hätte die Postkarte nicht fallen gelassen, er hätte sie nicht aufgehoben und umgedreht und auch nicht langsam die Nachricht gelesen, die Max mir hinterlassen hatte.
Ich wollte ihm die Karte entreiÃen, war aber nicht schnell genug.
»Was machst du hier?«, fuhr ich ihn an. »Spionierst du mir etwa nach?«
»Das ist das zweite Mal, dass du mich das fragst«, erwiderte er. »Also frage ich dich jetzt zum zweiten Mal: Verfolgt dich jemand?«
Ich starrte ihn wütend an. »Allem Anschein nach ja.«
»Jetzt komm mal wieder runter.«
»Und?«
»Und?« Er hatte genau den gleichen Ton drauf wie ich. Ich ging ihm nicht in die Falle.
»Was machst du hier?«
»Ich wusste gar nicht, dass das hier dein Privatbesitz ist.« »Es ist ein Friedhof«, gab ich zurück.
»Ach, deshalb stehen hier überall diese seltsam geformten Steine rum. Willst du mir sagen, was du hier machst?«
»Nein.«
»Na sieh mal an, dann haben wir ja etwas gemein.«
»Könnte es sein, dass du adoptiert wurdest?«, fragte ich.
»Wie bitte?«
»Du und Chris, ihr kommt nicht aus demselben Genpool.«
Er erstarrte. Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich. Ich war zu weit gegangen.
»Tut mir leid«, sagte ich schnell.
»Das bezweifle ich.« Der spöttische Ton in seiner Stimme war verschwunden, sein Gesicht ausdruckslos.
Ich wusste, wann es besser war, den Mund zu halten.
»Wenn ich dir jetzt sagen würde, dass ich einfach Lust hatte, eine Weile bei den Toten zu sein, hältst du mich bestimmt für verrückt«, gestand er nach einer Weile.
Ich hielt ihn nicht für verrückt.
»Bist du an seinem Grab gewesen?«, fragte ich.
»Nur bei der Beerdigung. Am Tag darauf bin ich abgereist und hergekommen.«
»Wie war es?«
»Wie ein groÃes Loch in der Erde.«
Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich laut loslachen würde. Ich auch nicht.
»Ich glaube nicht, dass du verrückt bist«, meinte ich. »Ich bin schlieÃlich auch hier.« Wegen meines Bruders. Aber nicht nur seinetwegen. »Aber jetzt sollte ich gehen.«
Eli zuckte mit den Schultern und fragte dann wie beiläufig: »Hast du Bekannte in Prag?«
»Was?« Nur ein totes Mädchen namens Elizabeth, wollte ich antworten. Aber ich habe seit vierhundert Jahren nichts mehr von ihr gehört. »Nein.«
Er wies mit dem Kopf auf die Postkarte. »Bis auf den, der dir das da geschickt hat.«
Mein Blick ging wieder zu der Postkarte, wobei ich darauf achtete, sie so zu halten, dass er die Nachricht nicht lesen konnte. Wenn die Postkarte aus Prag war â was irgendwie viel zu verrückt war, um sich das überhaupt vorzustellen â, wie war sie dann auf Andys Grab gekommen? »Wieso glaubst du, dass sie aus Prag ist?«
Er hatte ein nettes Lächeln. »Die Statue. Das ist der heilige Johannes von Nepomuk auf der Karlův most. Der Karlsbrücke. Die Figur erkenne ich sofort wieder.«
»Weil du so eine Art fotografisches Gedächtnis für ausländische Heiligenfiguren hast?«
Als sein Lächeln breiter wurde, vertieften sich die kleinen Fältchen um seine Augen. »Normale Leute hängen sich gern Bilder von ihrer Familie an die Wand, andere von ihren Haustieren oder Jesus. Im Haus meiner
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