Das Buch aus Blut und Schatten
war es auch nicht. Hinter der Eingangshalle war eine zweite Flügeltür installiert, die sich mit einem lauten Summen öffnete, als ein Sicherheitsbeamter mich durchwinkte, und hinter mir wieder ins Schloss fiel. Gelb gestrichene Wände tauchten den Flur in fahles Licht. Eine ältere Frau, die dichten grauen Haare zu einem Zopf geflochten, hastete an mir vorbei. Sie hatte die Hände in ihrem Morgenmantel gekrallt und murmelte, dass sie sich für ein Rendezvous zurechtmachen müsse. Ich lächelte höflich, weil sich das so gehörte; ich lächelte, aber dann wandte ich den Blick ab, weil ich fand, dass sich auch das so gehörte. Ich konnte mir unmöglich vorstellen, wie Adrianes Eltern hier durchmarschierten, Mr Ames in seinem maÃgeschneiderten Anzug, Ms Kato in einem ihrer seidenen Kimonos, die angeblich seit zwei Jahrhunderten von den Frauen in ihrer Familie an die Töchter weitergegeben wurden. Adriane hatte mir einmal im Vertrauen gesagt, dass die Vorfahren ihrer Mutter Fischer und Feldarbeiter waren und dass die Seidenkimonos nicht in den 1950ern per Schiff mit der jungen GroÃmutter Kato ins Land gekommen, sondern eine Sonderbestellung aus einer Boutique für Profi-Stripperinnen in der Newbury Street in Boston waren.
Adriane konnte ich mir hier überhaupt nicht vorstellen.
Sie hatte ein Einzelzimmer, und wenn man bestimmte Elemente einfach ignorierte â die Tür, die nur von auÃen aufging, das Metallgitter vor dem Fenster, der Rufknopf neben dem Bett â, sah es aus wie ein Motelzimmer. Ein billiges Motelzimmer von der Art, die keiner aus Adrianes Familie freiwillig betreten würde, aber es sah trotzdem besser aus, als ich erwartet hatte. Und sie auch.
Sie saà auf dem Rand eines blauen Sessels, die Schultern zurück, den Hals lang gestreckt, mit dieser verdammt perfekten Tänzerhaltung. Ihre glatten schwarzen Haare waren gebürstet und mit ihren Lieblingshaarspangen, denen mit den blauen Strasssteinen, nach hinten gesteckt. Trotz des ärmellosen Tops und der Yogahose â eine Kombination, die an Adriane immer wie bei einem von Paparazzi erwischten Starlet aus der VIPs-sind-Leute-wie-du-ich-Sparte eines Klatschmagazins aussah â war ihr Gesicht perfekt gepudert, die Wimpern waren getuscht, die Lippen glänzten in einem frischen Pink und waren zu einem leichten Lächeln verzogen. Dann war also alles nur ein schlechter Scherz gewesen, dachte ich, als ich auf Adriane zuging â schlecht, aber brillant â und sie versteckte sich jetzt hier, während ich allein und verängstigt war. »Du bist so scheiÃe«, sagte ich, als ich sie umarmte. »Du bist scheiÃe und ich hasse dich. Warum hast du nicht angerufen?« Ich drückte sie, so fest ich konnte, und zum ersten Mal seit jener Nacht hatte ich das Gefühl, wieder atmen zu können.
Sie erwiderte meine Umarmung nicht.
»Okay, ich hasse dich vielleicht doch nicht.«
Nicht nur, dass sie meine Umarmung nicht erwiderte; sie bewegte sich überhaupt nicht. Ich lieà sie los.
Ihre Augen hätten mir auffallen sollen, die Augen unter dem hellen silbernen Lidschatten und dem dünnen Lidstrich. Sie folgten mir nicht, als ich einen Schritt zurückmachte, dann noch einen und zur Tür ging; sie blinzelten nur ab und zu.
»Oh, was sind wir beliebt, nicht wahr, Adriane?«, rief eine laute, fröhliche Stimme hinter mir. »Drei Besucher an einem Tag. Wie schön!«
Falls Adriane dachte, das sei schön â falls Adriane überhaupt dachte â,zeigte sie es nicht.
»Sie können ruhig reingehen«, sagte die Schwester zu mir. »Sie beiÃt nicht.«
»Hat sieâ¦ist sieâ¦Â« Wenn ich schon die Frage nicht formulieren konnte, war es nicht sehr wahrscheinlich, dass ich die Antwort ertragen konnte. Kurswechsel. »Sie sieht gut aus.«
»Nicht wahr?« Die Schwester strahlte. Ihr rundes Gesicht glühte geradezu. Es war pervers, an so einem Ort derart gesund auszusehen. »Ihre Mama kommt jeden Morgen und macht sie zurecht.«
Das klang nicht nach Ms Kato, die alles andere als eine »Mama« war.
»Bleiben Sie, so lange Sie möchten«, fuhr sie fort. »Aber Sie dürfen sie nicht aufregen.«
»Sie meinen also⦠Kann sie mich hören, wenn sie so ist?«
Die Schwester lieà ihre fette Hand auf meine Schulter fallen. »Sie hat sich zurückgezogen«, erklärte sie. »Das habe ich dem
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