Das Buch aus Blut und Schatten
meine Abende, an meinem Schreibtisch, das Lateinwörterbuch neben, die Postkarte vor mir. Den Block mit meinen Ãbersetzungen hatte ich aus lauter Frust schon längst zugeschlagen, nachdem die Worte zu einer sinnlosen Suppe verschwommen waren.
An meiner Zimmertür klopfte es leise. »Nora?« Mein Vater. Er war seit der Nacht nach dem Mord nicht mehr in meinem Zimmer gewesen. Damals hatten mich meine Eltern vom Polizeirevier nach Hause gefahren und dann zum vermutlich ersten Mal in meinem Leben ins Bett gebracht. Davor war er jahrelang nicht mehr hier gewesen.
Ich schob die Postkarte zwischen die Seiten meines Notizblocks. »Komm rein.«
Er setzte sich auf die Schreibtischkante. »Hallo.«
»Hallo.« Ich wartete.
Mein Vater tippte mit dem Finger auf das Wörterbuch. Es war eine schwere, in Leder gebundene Oxford-Ausgabe, mit Goldschnitt und einem umfangreichen Teil mit Originalquellen. Er hatte es mir zu meinem elften Geburtstag geschenkt. Heute wäre es mir peinlich zuzugeben, dass ich mich damals wie irre gefreut habe. Es reicht wohl, wenn ich sage, dass es Gekreische gegeben hatte. »Schön, dass du mit dem Ãbersetzen weitermachst«, sagte er.
Ich zuckte mit den Schultern. »Hausaufgaben.«
Ich fragte mich, ob er die Nachmittage vermisste, an denen wir in seinem Arbeitszimmer gesessen und an der Ãbersetzung von Lukrez gearbeitet hatten, die wir jedoch nie zu Ende gebracht hatten. Irgendwann waren aus drei Tagen die Woche zwei geworden, dann einer. Ich weià nicht mehr, was zuerst gewesen war: der Tag, an dem er seine Tür nicht mehr für mich geöffnet hatte, oder der Tag, an dem ich mir nicht mehr die Mühe machte zu klopfen, weil Chris und Adriane mir etwas Besseres vorgeschlagen hatten. Ich fragte mich, ob er immer noch am Lukrez arbeitete, ob er ihn ohne mich zu Ende übersetzt hatte.
Ich bezweifelte es.
Er lächelte. Es sah irgendwie merkwürdig aus auf seinem Gesicht, das Lächeln, als wüsste es, dass es dort nicht hingehörte, als würde es nicht lange bleiben wollen. »Kann ich mal sehen?«
Wenn ich Nein sagte, wurde er vielleicht misstrauisch. AuÃerdem wusste ich nicht mehr weiter. Ich gab ihm den Notizblock.
Er runzelte die Stirn. »Hausaufgaben?«
»Es ist so eine Art Puzzle. Wir sollen herausfinden, was es bedeutet.«
Er fuhr mit dem Finger über meine hingekritzelten und wieder ausgestrichenen Ãbersetzungen. »Wo ist das Original?«
Ich blätterte eine Seite nach hinten, wo ich den Text von der Postkarte hingeschrieben hatte. Er nickte und formte Maxâ Worte lautlos mit den Lippen.
»Vielleicht ist diese Schule doch ihr Geld wert«, meinte er.
»Ich habe ein Stipendium«, erinnerte ich ihn.
Er ignorierte mich und griff nach einem Stift. Dann tippte er damit auf einzelne Buchstaben, während er leise zählte. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie euch in dieser Klassenstufe Steganografie beibringen. Sehr beeindruckend.«
»Steganografie?« Das Wort kam mir bekannt vor, vielleicht hatte der Hoff uns irgendwann einmal etwas darüber erzählt, damals, als ich aus Prinzip alles, was von ihm kam, einfach ignoriert hatte.
»Eure Lehrerin hat vermutlich Verschlüsselung oder Code dazu gesagt, obwohl das nicht ganz genau stimmt, denn ein Code beruht in der Regel auf dem Sinn einer Nachricht und ersetzt bestimmte Wörter oder Formulierungen durch im Voraus festgelegte andere, während bei einer Verschlüsselung jeder einzelne Buchstabe mithilfe eines bestimmten Algorithmus durch einen anderen Buchstaben oder ein Symbol ersetzt wird.« Er hatte in den Lehrermodus gewechselt. Sein Blick war immer noch auf die Seite gerichtet. »Aber bei der Steganografie geht es darum, die Tatsache zu verschleiern, dass es sich um eine Verschlüsselung handelt oder dass es überhaupt eine Nachricht ist. Die Nachricht ist für jeden sichtbar, sie wird aber trotzdem nicht erkannt. Ganz als wäre sie mit unsichtbarer Tinte geschrieben worden. Was übrigens auch ein Stegotext wäre. Hat euch das eure Lehrerin denn nicht erklärt?«
»Dafür gibtâs einen Extrapunkt«, beeilte ich mich zu sagen. »Weil das eigentlich erst nächste Woche drankommt.«
»Ah, wenn das so ist, will ich dir lieber nicht zu viel verraten.«
»Was hast du denn damit gemeint? Die Nachricht ist für jeden sichtbar, wird aber trotzdem nicht erkannt?« Nichts und
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