Das Buch aus Blut und Schatten
der Rolltreppe zurück zur Oberfläche zu fahren.
»Jemand beobachtet uns«, flüsterte Adriane, als wir die riesige Glaspyramide am Eingang des Museums verlieÃen.
»Wo?«
»Er hat gerade die Rolltreppe verlassen â in unserem Alter, graues Sweatshirt, schwarze Haare. Sieh ihn dir an.«
Doch als ich mich auffällig unauffällig umdrehte, konnte ich niemanden entdecken, auf den Adrianes Beschreibung passte. Auch in den Touristenhorden am Eingang schien niemand zu sein, der sich für uns interessierte. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, die Glaspyramide und die majestätische Umgebung zu fotografieren â auf der einen Seite gepflegte Parkanlagen mit akkurat geschnittenen Hecken, die plätschernde Brunnen einrahmten, auf der anderen der Louvre selbst, jahrhundertelang der Wohnsitz französischer Könige, dessen barocke Giebel von den Skulpturen sämtlicher toter weiÃer Männer gekrönt wurden, die im Auftrag der Franzosen die Zivilisation geformt hatten. Die strenge Glaspyramide im Hof sah aus, als wäre sie von AuÃerirdischen vergessen worden, wirkte dort aber auch nicht weniger deplatziert als die zahllosen Digitalkameras und Miniröcke. Ludwig XIV. wäre wahrscheinlich nicht sehr begeistert gewesen.
»Er ist weg«, sagte Adriane.
»Jemand von der Schule?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur irgendein Junge. Aber er hat uns definitiv angestarrt.«
»Dich vielleicht«, meinte ich. Wie sich herausgestellt hatte, gehörte das zu Paris wie der Eiffelturm. Sogar ich war seit unserer Ankunft bereits zweimal angebaggert worden, was selbst dann bemerkenswert gewesen wäre, wenn es nicht schon fast zwei Tage her gewesen wäre, dass ich das letzte Mal geduscht und meine Kleidung gewechselt hatte. »Egal, lass uns von hier verschwinden.«
Adriane fand die richtige Métro und brachte uns ohne weitere Zwischenfälle zum Gare du Nord, wo ich den auswendig gelernten Satz »Je voudrais acheter deux billets à Prague, siâil vous plaît« anbringen konnte. Dafür bekam ich zwei Fahrkarten und einen Dein-Akzent-ist-scheiÃe -Blick von dem schmalen Mann mit Schnurrbart hinter dem Schalter.
Der Gare du Nord sah aus wie ein Schloss, wie fast alles in Paris. Zumindest von auÃen. Innen wirkte er eher wie ein höhlenartiges Speditionslager in Form einer gotischen Kathedrale. Drei der vier Wände strebten ewig nach oben, aber die vierte fehlte. An ihrer Stelle tat sich ein klaffendes Maul auf, durch das die Züge kommen und gehen konnten, zusammen mit der Sonne.
»Wir tun es tatsächlich«, frohlockte Adriane, während sie den Zügen nachsah, die zu unbekannten Zielen losfuhren.
»Wir tun es tatsächlich.«
Plötzlich riss sie die Augen auf und packte mich am Arm. »Er ist hier«, hauchte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
»Wer?«
»Der Typ aus dem Museum. Er ist uns gefolgt.«
»Wo?«
Sie zog mich in die Nische vor einer öffentlichen Toilette. Von unserem Versteck aus lugten wir um die Ecke. »Eben stand er noch vor dem Café und hat uns beobachtet«, sagte sie.
»Ich seh ihn nicht.«
»Jetzt seh ich ihn auch nicht mehr«, gestand sie. »Aber er war da.«
»Bist du sicherâ¦Â«
»Ich bilde mir das doch nicht ein«, protestierte sie heftig. »Ich bin nicht verrückt.«
»Wenn du sagst, dass uns jemand folgt, glaub ich dir das«, versicherte ich. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, ihr nicht zu glauben. »Komm, wir gehen zum Bahnsteig. Schnell.«
Im Bahnhof wimmelte es nur so von Menschen: stämmige Männer mit schicken Aktentaschen in der Hand, Geschäftsfrauen auf schwindelerregend hohen Absätzen, Touristen aller Glaubensrichtungen, Hautfarben und Kameramodelle und ein paar Grüppchen mit Kindern in viel zu groÃen, nicht zusammenpassenden Kleidungsstücken. Adriane erklärte, das seien die klauenden Zigeuner, vor denen uns unsere Abschlussfahrt-Aufpasser gewarnt hatten. (Sie hatten allerdings noch hinzugefügt, dass Zigeuner ein veralteter, politisch nicht korrekter Begriff für eine Gruppe von Menschen sei, von denen die meisten rechtschaffene, gesetzestreue und unterdrückte Bürger seien⦠dass wir aber trotzdem auf unsere Portemonnaies achten und diesen Kindern aus dem Weg gehen sollten.) Adriane und ich waren ziemlich stolz auf uns, weil wir es geschafft hatten, ohne allzu viel
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