Das Buch aus Blut und Schatten

sie.
    Â»Na ja, diejenigen von uns, die nach Prag wollen, gehen da lang.« Er zeigte in eine Richtung, die der unseren entgegengesetzt war. »Da, wo ihr jetzt hinwollt, geht’s, glaube ich, nach… Dänemark?«
    Â»Vielleicht wollen wir ja nach Dänemark«, rief ich.
    Â»Ja, klar. Und deshalb habt ihr dem armen Kerl zehn Minuten lang ›Prag!‹ ins Gesicht gebrüllt. Ich weiß, wo ihr hinwollt, und ich weiß auch, warum ihr dahin wollt, und wenn wir jetzt nicht sofort gehen, wird das heute nichts mehr, also…«
    Â»â€ºWir‹ gehen nirgendwohin.«
    Â»Lass uns die Karten auf den Tisch legen«, schlug er vor.
    Â»â€ºKarten auf den Tisch legen‹?« Adriane lachte. »Du redest wie mein Großvater.«
    Â»Du suchst Max. Ich auch. Wir wollen beide das Gleiche. Warum helfen wir uns nicht gegenseitig?«
    Â»Damit ich das jetzt richtig verstehe«, sagte ich. »Du verfolgst mich – transatlantisch –, weil du mir helfen willst?«
    Â»Ich will Antworten.«
    Â»Die habe ich nicht«, gab ich zurück. »Und das hier hat nichts mit Max zu tun. Wir haben Ferien.«
    Â»Nein. Die anderen aus eurer Klasse haben Ferien. Ihr seid ausgebüxt.«
    Â»â€ºAusgebüxt‹?«, wiederholte Adriane fassungslos.
    Â»Ihr könnt mich ruhig Großvater nennen«, fuhr Eli sie an. »Es ist mir egal. Und du kannst auch ruhig weiterlügen. Aber wenn du so verdammt sicher bist, dass Max unschuldig ist, sollte es dir eigentlich egal sein, ob ich mitkomme oder nicht. Vielleicht ist er ja unschuldig. Aber er weiß etwas.«
    Â»Und selbst wenn er etwas weiß, warum willst ausgerechnet du es herausfinden?«, fragte ich.
    Â»Wer soll es denn sonst tun? Die Idioten von der Polizei? Denen geht es doch nur darum, in den Abendnachrichten nicht ganz so dumm auszusehen. Und dir geht es nur darum, deinem armen kleinen vermissten Freund zu helfen. Irgendjemand muss schließlich auch an Chris denken.«
    Â»Du kannst mich mal«, schleuderte Adriane ihm entgegen.
    Â»Komm, wir gehen einfach«, sagte ich zu ihr.
    Â»Geh vor«, sagte Eli.
    Â»Dich habe ich nicht gemeint.«
    Â»Ich werde mitkommen«, sagte er.
    Â»Ganz toll«, meinte Adriane. »Wenn die Polizei hier ist, sagst du das noch mal. Genau so. Richtig unheimlich und bedrohlich.«
    Â»Du lügst genauso schlecht wie sie«, erwiderte Eli. »Du willst die Polizei holen? In Ordnung. Ich bin sicher, dass sie ganz begeistert davon sein werden, euch zwei zu eurer Gruppe zurückzubringen.«
    Â»Was ihn betrifft, hattest du recht«, sagte Adriane zu mir.
    Â»Geht’s um meinen Niedlichkeitsfaktor?«, wollte Eli wissen. »Gib’s doch zu, inzwischen findest du mich auch süß.«
    Sie drehte ihm den Rücken zu. Wir gingen in Richtung Bahnsteig und ignorierten die Schritte hinter uns. »Er muss adoptiert worden sein.«
    6 Irgendwann in der Nacht, irgendwo in Deutschland, während die mondhelle Landschaft an uns vorbeizog, als Kleckse in der Dunkelheit, die Kühe, Bäume, Häuser oder Fettflecken auf dem Fenster sein konnten, gab ich es auf, schlafen zu wollen. Eli schnarchte in seiner Hälfte des Abteils, Adriane hatte sich um ihren Rucksack zusammengerollt, die Knie an der Stirn, mein Pass war sicher verstaut in einem Beutel, der unter der Jeans um meine Taille gewickelt war, eine von meinen Eltern verordnete Sicherheitsmaßnahme, die ich so lange für des Guten zu viel hielt, bis wir die erste Landesgrenze überquert hatten und der Schaffner unsere Papiere zu sehen verlangte, in einem Ton, als würde er seinen Text für irgendeinen Kriegsfilm üben. Der Zug rumpelte mit konstanter Geschwindigkeit auf den Schienen dahin, durch leere Felder und unaussprechliche kleine Städte, Wuppertal und Bielefeld und Bad Schandau, und raste mit dem Sonnenaufgang um die Wette.
    Â»Adriane?«, flüsterte ich. Wir teilten uns die harte, mit Plastik bezogene Sitzbank, unsere Köpfe waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Als wir in das Abteil gekommen waren, hatte dort bereits ein anderer Fahrgast gesessen, dessen wettergegerbtes Gesicht uns über eine zerknitterte Zeitung hinweg anstarrte, während eine schmale Rauchsäule hinter dem Papier aufstieg, trotz der zahlreichen Défense de fumer/Rauchen verboten/No smoking -Zeichen, die von einer leicht verständlichen Grafik in Rot begleitet wurden. Eli