Das Buch Der 1000 Wunder
alles, was man sonst auf der Oberfläche des Mars wahrnimmt.
Eigentliche Meere und Flüsse gibt es auf dem Stern nicht mehr. Das wenige Wasser, das vorhanden ist, schlägt sich allmählich an demjenigen Pol nieder, der der kälteste Punkt der Marsoberfläche ist. Er wird dabei mit Reif, kaum mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. In jedem Jahr aber, das auf dem Mars fast doppelt so lange dauert wie auf der Erde, verschiebt sich das kälteste Gebiet einmal vom Nord- zum Südpol. Denn die Achse des Mars hat eine andere Neigung zur scheinbaren Sonnenbahn (Ekliptik) als die Erdachse.
359 Bald ist es also für längere Zeit am Nordpol am kältesten, während zu dieser Zeit der Südpol im wärmsten Sonnenlicht liegt, bald tritt das Umgekehrte ein. Man sieht dann die weiße Kappe an dem Pol, an dem allmählich der Sommer einzieht, ganz abschmelzen, bis auf die nächste Umgebung des Nordpols und eine dreieckige Insel in der Nähe des Südpols, an welchen Stellen man die weiße Farbe nie hat schwinden sehen. Dort geht wahrscheinlich eine Art Gletscherbildung vor sich.
In jedem Jahr also findet zweimal ein Ziehen des gesamten Wassers, das der Mars besitzt, von einem Pol zum andern statt; es destilliert in Form von Wasserdampf herüber und hinüber. Und in diesem Vorgang sieht Arrhenius die Ursache für das Entstehen und Verschwinden der sogenannten Kanäle.
Bevor wir diese Theorie des schwedischen Forschers betrachten, muß auf einen Umstand aufmerksam gemacht werden, der erklärlich erscheinen läßt, daß so viele ausgezeichnete Astronomen sich über die Natur der Kanäle so lange täuschen konnten. Unter den günstigsten Umständen sieht man von der Erde aus den Mars in einem hundertfach vergrößernden Fernrohr ebenso groß wie ein Fünfpfennigstück, wenn man es aus anderthalb Metern Entfernung betrachtet. Die höchste Vergrößerung, die man wegen der Unreinheit und wechselnden Zusammensetzung der Luft in unseren Landen noch anwenden kann, ist das 300fache. In Fernrohren von derartiger Leistung sieht der Mars aus wie ein Fünfmarkstück aus 110 Zentimetern Entfernung gesehen. Es ist kaum genug zu bestaunen, daß es überhaupt möglich gewesen ist, auf einer so kleinen Fläche so viele Einzelheiten wahrzunehmen. Ganz besonders scharfe Augen und größte Erfahrung, sowie ein bedeutendes Maß von Geduld gehören zu derartigen Untersuchungen.
Schiaparelli sah mit seinen ungewöhnlich guten Augen auf der Marsoberfläche zahlreiche geradlinige Gebilde, die immer von einem dunklen Fleck zum andern ziehen, einander kreuzen, ein eigenartiges Netzwerk fast auf der ganzen Oberfläche des Planeten bilden. Sie sind nicht ständig vorhanden, sondern verschwinden zu Zeiten, um dann wieder aufzutauchen. Bald stand es für Viele fest, daß diese Linien großartige Anlagen der Marsbewohner zur Verbindung der einzelnen Meere oder Seen bedeuteten. Sie hätten, meinte man, zur Ermöglichung eines bequemen Wasserverkehrs über den ganzen Planeten, garnicht zweckmäßiger angelegt werden können, aber sie seien auch vorzüglich zur Abhaltung von Überschwemmungsschäden zu gebrauchen. Man wußte ja, daß in jedem Jahr die Pole abtauen, und glaubte, da man dort mächtige Schneemassen vermutete, daß sich zu dieser Zeit große Wassermengen über die ganze Oberfläche des Planeten ergießen müßten, die von den Martiern in von ihnen 360 gewünschte Bahnen gelenkt würden. So schien auch die riesenhafte Breite der Kanäle erklärlich. Sie wären nicht von vornherein so breit angelegt worden, sagte man, sondern das anstürmende Wasser hätte die kolossalen Rinnen allmählich ausgewaschen, und zudem sähe man wohl von uns aus nicht nur die eigentlichen Wasserläufe, sondern auch die Vegetationsstreifen zu beiden Seiten als dunkle Bänder.
Merkwürdigerweise konnte man die Kanäle durch die mittleren und kleinen Fernrohre am besten beobachten. Die großen Teleskope erwiesen sich hierzu als minder geeignet. Hieraus schon schloß man frühzeitig, daß es sich wohl mehr um eine Augentäuschung handle, die eben den schärfer zupackenden großen Werkzeugen der Wissenschaft nicht standhält.
Und so ist es in der Tat. Antoniadi sah in jener günstigen Beobachtungszeit im Jahre 1909 statt der gradlinigen geometrischen Gebilde nur matte, formlose Bänder, von denen viele aus zahlreichen kleinen Flecken bestehen. Statt des Netzes nur flüchtig sichtbarer gerader Linien enthüllte ihm sein Rohr, der große Refraktor der Sternwarte zu Meudon, das Bild
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