Das Buch Der Hundert Vergnügungen
einen Strand aus, wo es keine Geschäfte und keine Eisverkäufer, keine Cafés und keine Parkplätze gibt, und Sie werden feststellen, dass alle dort zufrieden sind. Eltern können lesen oder paddeln, und Kinder entdecken ihre eigene Kreativität beim Spiel mit dieser wunderbaren Modelliermasse: dem nassen Sand. Es gibt keinen Streit um Kieselsteine, denn es sind immer genug Kiesel für alle da. Anders als die Welt der Konsumartikel ist die Natur freigebig und hält alles in Hülle und Fülle parat, weshalb es auch keinen Grund gibt, darum zu kämpfen. Sie können sich entscheiden, zu schwimmen oder das Meer anzustarren, oder Sie spielen in den Gezeitentümpeln und fangen Garnelen. Sie können Ihr Sandwich essen oder auf einem improvisierten Grill Fisch rösten: Eine ganze Welt der Behaglichkeit steht Ihnen offen.
TH
NUR MAL UMSCHAUEN
Früher nannte man es Herumstöbern. Aber herumzustöbern schloss die Freiheit ein, sich einfach nur umzuschauen, ohne Kaufverpflichtung. »Sich nur mal umzuschauen« ist etwas anderes. Sobald Sie den Laden betreten, weckt das in dem Verkäufer mit dem Armani-Anzug Erwartungen. Sie sind seine Fahrkarte zu einem Verkaufsgeschäft, das Zubehör des Markenartikels. Ein »Ich schau mich nur mal um« an der richtigen Stelle verschiebt das Gleichgewicht der Kräfte. Nehmen Sie ein paar Sachen in die Hand und legen Sie sie wieder hin. Die Ladenmieten sind so hoch, dass jede Minute, in der Sie sich »nur mal umschauen«, einem Ladendiebstahl gleichkommt – Sie stehlen sich Aufmerksamkeit, Platz und wertvolle »Marken-Zeit«. Sie sind ein Flaneur, der in der Menge im Laden mitschwimmt, ohne in Versuchung geführt zu werden. Alle Übrigen sind Konsumenten. Sie hingegen wollen sich »nur mal umschauen«.
AM
MELANCHOLIE
In einer Welt, in der wir gewohnt sind, jeden Anfall von Depression gnadenlos mit hochwirksamen Stimmungsaufhellern wie Tavor oder Fluctin zu bekämpfen, vergisst man leicht, dass es auch Vergnügen bereiten kann, Trübsal zu blasen. Sie können sich zum Beispiel vorstellen, Sie seien ein romantischer Poet, der durch dunkle Wälder wandert und dabei Verse schmiedet, um sein Elend in Worte zu fassen. In seiner Anatomie der Melancholie , jener großartigen Selbsthilfe-Fibel aus dem 17. Jahrhundert, schreibt Robert Burton: »Welch eine unvergleichliche Lust ist es doch, der Melancholie sich hinzugeben, Luftschlösser zu bauen, lächelnd umherzuwandern und eine unendliche Vielzahl der verschiedensten Rollen zu spielen.« Und Burton muss wissen, wovon er spricht, denn schließlich hat er das Buch darüber geschrieben.
TH
MIT KLEINEN KINDERN SPAZIEREN GEHEN
Kleine Kinder haben keinen Sinn dafür, das Gehen als Funktion zu begreifen. Für sie ist es die Gelegenheit, einfach nur herumzulaufen und dabei Ziegelsteine oder Erdklumpen auf dem Weg anzustarren und sich zu wundern, wie die denn da hingekommen sein mögen. Sie laufen wieder zurück oder biegen ab, und manchmal bleiben sie einfach stehen und schauen andächtig zum Himmel hinauf. Statt sich darüber zu ärgern und ungeduldig zum Weitergehen zu drängeln, sollten Sie sich lieber diese Methode zu eigen machen, einem Impuls der Neugier nach dem anderen nachzugehen. Kleinkinder sind Meister des Instinkts. Sobald Sie Ihre innere Unruhe überwunden haben, die Sie unablässig immer weiter vorwärtstreibt, werden Sie entdecken, was es bedeutet, wirklich entspannt zu sein. Am Anfang mag dieser Prozess für einen gehetzten Erwachsenen frustrierend sein, doch sobald Sie die Hoffnung aufgegeben haben, zu einer bestimmten Zeit irgendwo anzukommen, werden Sie in einem Zustand kindlicher Langsamkeit schwelgen.
Folgen Sie dieser nobleren Methode der Besichtigung, und Ihre Umwelt wird sich in einen immer zauberhafteren Ort verwandeln. Stöcke, über die Sie sonst achtlos hinweggestiefelt wären, werden plötzlich zu Lanzen und Schwertern, die durch die Luft sausen wie von tapferen, längst vergessenen Helden geführt.
DK
SINGEN
Bevor es das Radio gab, haben wir alle gesungen, jeder Mann und jede Frau, den ganzen Tag lang. Wenn man etwa im Jahr 1350 durch die Straßen von Florenz spazierte, hörte man jeden Handwerker und jeden Händler seine Lieder trällern, weltliche wie kirchliche, Volkslieder, höfische Minnelieder und Kanzonen von Dante. Die Freudlosigkeit des puritanischen Zeitalters hat viel dazu beigetragen, dass diese fröhliche Art und Weise, seiner Stimmung Ausdruck zu verleihen, weitgehend verschwunden ist. Doch hier und da
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