Das Buch der Illusionen
sie nicht die Absicht hat, uns Claire von außen zu zeigen, sondern eher, dass sie in sie eindringen und ihre Gedanken lesen, sie liebkosen will. Claire folgt Martin mit den Augen, sieht ihn aus dem Zimmer gehen, und kurz nachdem die Kamera vor ihr zur Ruhe gekommen ist, hören wir die Tür ins Schloss fallen. Claires Gesichtsausdruck ändert sich nicht. Bis bald, Martin, sagt sie. Ihre Stimme ist leise, kaum mehr als ein Flüstern.
Den Rest des Tages arbeiten Martin und Claire in verschiedenen Zimmern. Martin sitzt im Arbeitszimmer am Schreibtisch, tippt, schaut aus dem Fenster, tippt wieder, liest sich murmelnd vor, was er geschrieben hat. Claire, die in Jeans und Sweatshirt wie eine Studentin aussieht, lümmelt sich mit den Prinzipien der menschlichen Erkenntnis von George Berkeley auf dem Bett. Einmal bemerken wir kurz, dass der Name des Philosophen in Blockbuchstaben auf ihrem Sweatshirt steht: BERKELEY - was zufällig auch der Name ihres Colleges ist. Hat das etwas zu bedeuten, oder ist es nur ein kleiner optischer Scherz? Während die Szene zwischen den beiden Zimmern hin- und herwechselt, liest Claire laut vor: Und es scheint nicht weniger offensichtlich, dass die verschiedenen, von den Sinnesorganen wahrgenommenen Empfindungen oder Ideen, sosehr sie auch miteinander vermischt oder verschmolzen sein mögen, nirgendwo anders existieren können als in dem Geist, der sie wahrnimmt. Und weiter: Zweitens wird der Einwand erhoben, dass zwischen wirklichem Feuer und der Idee des Feuers, zwischen dem Traum oder der Vorstellung, verbrannt zu werden, und dem tatsächlichen Vorgang ein großer Unterschied besteht.
Am späten Nachmittag klopft es an die Tür. Claire liest weiter, doch als sich, diesmal lauter, das Klopfen wiederholt, legt sie das Buch weg und sagt, Martin könne hereinkommen. Die Tür öffnet sich eine Handbreit, und Martins Kopf erscheint. Verzeihung, sagt er. Ich war heute früh nicht sehr nett zu Ihnen. Das hätte ich nicht tun dürfen. Eine steife, plumpe Entschuldigung, aber so unbeholfen und zaghaft vorgetragen, dass sie Claire ein amüsiertes, vielleicht sogar etwas mitleidiges Lächeln entlockt. Ein Kapitel müsse sie noch schaffen, sagt sie. Wie war's, wenn sie sich in einer halben Stunde im Wohnzimmer treffen und etwas trinken würden? Gute Idee, sagt Martin. Wenn sie schon hier zusammen seien, könnten sie sich auch wie zivilisierte Menschen betragen.
Schnitt ins Wohnzimmer. Martin und Claire haben eine Flasche Wein aufgemacht, aber Martin wirkt immer noch nervös, ein wenig im Zweifel darüber, was er von dieser seltsamen, attraktiven Philosophieleserin halten soll. In einem unbeholfenen Versuch, einen Scherz zu machen, zeigt er auf ihr Sweatshirt und fragt: Steht da Berkeley, weil Sie gerade Berkeley lesen? Und wenn Sie anfangen, Hume zu lesen, ziehen Sie dann eins mit seinem Namen an?
Claire lacht. Nein, nein, sagt sie, das wird verschieden ausgesprochen. Berk-ley und Bark-ley. Das erste ist ein College, das andere der Philosoph. Das wissen Sie doch. Jeder weiß das.
Es wird aber gleich geschrieben, sagt Martin. Also ist es dasselbe Wort.
Es wird gleich geschrieben, sagt Claire, aber es sind zwei verschiedene Wörter.
Claire will noch mehr sagen, unterbricht sich aber, denn plötzlich wird ihr bewusst, dass Martin sie auf den Arm nimmt. Sie setzt ein breites Lächeln auf, hält Martin ihr Glas hin und bittet ihn, ihr nachzuschenken. Sie haben eine Kurzgeschichte über zwei Leute mit demselben Namen geschrieben, sagt sie, und ich will Ihnen einen Vortrag über die Prinzipien des Nominalismus halten. Das muss am Wein liegen. Ich kann nicht mehr klar denken.
Sie haben diese Geschichte also gelesen, sagt Martin. Damit sind Sie einer von höchstens sechs Menschen im Universum, die das getan haben.
Ich habe alles von Ihnen gelesen, antwortet Claire. Die beiden Romane und den Erzählungsband.
Aber ich habe nur einen Roman veröffentlicht.
Aber den zweiten haben Sie schon fertig, oder? Sie haben Hector und Frieda das Manuskript gegeben. Frieda hat es mir geliehen, und vorige Woche habe ich es gelesen. Reisen in der Schreibstube. Ich halte es für das Beste, was Sie bisher geschrieben haben.
Jegliche Vorbehalte, die Martin ihr gegenüber gehabt haben mag, haben sich nun in Luft aufgelöst. Claire ist nicht nur lebendig und intelligent, nicht nur schön anzuschauen, sondern sie kennt und versteht auch seine Arbeit. Er schenkt sich noch einmal das Glas voll. Claire verbreitet sich über
Weitere Kostenlose Bücher