Das Buch der Illusionen
durchs Zimmer. Sie hat nichts an. Kein bisschen, gar nichts, nicht einmal den Hauch eines verhüllenden Schattens. Atemberaubend in ihrer Nacktheit, die bloßen Brüste und den bloßen Bauch frontal zur Kamera, stürmt sie auf das Objektiv zu, reißt ihren Morgenmantel von einer Stuhllehne und fahrt hastig in die Ärmel.
Es dauert eine Weile, das Missverständnis aufzuklären. Martin, nicht weniger aufgebracht und erregt als seine mysteriöse Bettgenossin, gleitet aus dem Bett, zieht seine Hose an und fragt sie dann, wer sie ist und was sie hier zu suchen hat. Die Frage scheint sie zu verletzen. Nein, sagt sie, wer ist er , und was hat er hier zu suchen? Martin kann es nicht fassen. Was reden Sie da?, sagt er. Ich bin Martin Frost - nicht dass Sie das was anginge -, und wenn Sie mir nicht auf der Stelle sagen, wer Sie sind, hole ich die Polizei. Unerklärlicherweise reagiert sie auf seine Erklärung mit Verwunderung. Sie sind Martin Frost?, sagt sie. Der echte Martin Frost? Genau das habe ich soeben gesagt, sagt Martin zunehmend gereizt, soll ich es noch einmal wiederholen? Nun ja, ich kenne Sie, antwortet die junge Frau. Nicht dass ich Sie wirklich kenne, aber ich weiß, wer Sie sind. Sie sind ein Freund von Hector und Frieda.
Was sie mit Hector und Frieda zu tun habe?, will Martin wissen, und als sie erklärt, sie sei Friedas Nichte, fragt er sie zum dritten Mal nach ihrem Namen. Claire, sagt sie schließlich. Claire, und weiter? Sie zögert kurz und sagt dann: Claire. Claire Martin. Martin schnaubt entrüstet. Soll das, fragt er, ein Witz sein? Ich kann doch nichts dafür, sagt Claire. Ich heiße wirklich so.
Und was haben Sie hier zu suchen, Claire Martin?
Frieda hat mich eingeladen.
Als Martin sie ungläubig ansieht, nimmt sie ihre Handtasche vom Stuhl. Nachdem sie einige Sekunden lang darin herumgewühlt hat, zieht sie einen Schlüssel heraus und hält ihn Martin hin. Sehen Sie?, sagt sie. Den hat Frieda mir geschickt. Das ist der Haustürschlüssel.
Noch gereizter als zuvor greift Martin in seine Hosentasche, zieht einen genau gleichen Schlüssel hervor und hält ihn Claire wütend hin - fuchtelt ihr damit vor der Nase herum. Und warum hat Hector mir dann den hier geschickt?, fragt er.
Weil.., erwidert Claire, indem sie vor ihm zurückweicht, weil. er Hector ist. Und Frieda hat mir den hier geschickt, weil sie Frieda ist. So was machen die beiden immer wieder.
Claires Bemerkung hat eine unbestreitbare Logik. Martin kennt seine Freunde gut genug, um einzusehen, dass ihnen derart unkoordinierte Handlungen absolut zuzutrauen sind. Zwei Leute zur gleichen Zeit ins Haus einladen: so etwas kann man von den Spellings ohne Weiteres erwarten.
Martin beginnt mit zerknirschter Miene im Zimmer auf und ab zu gehen. Das gefällt mir nicht, sagt er. Ich bin hier, weil ich allein sein will. Ich habe zu arbeiten, und wenn Sie hier im Haus sind. Naja, dann bin ich eben nicht allein, richtig?
Keine Sorge, sagt Claire. Ich werde Sie nicht stören. Ich bin ebenfalls zum Arbeiten hier.
Claire, so stellt sich heraus, ist Studentin. Sie bereite sich auf den Abschluss in Philosophie vor, sagt sie, und habe viele Bücher zu lesen, in wenigen Wochen müsse sie die Arbeit eines ganzen Semesters erledigen. Martin ist skeptisch. Was haben hübsche Mädchen mit Philosophie zu tun?, scheint sein Blick zu fragen, und dann quetscht er sie über das Studium aus, fragt nach dem College, das sie besucht, nach dem Namen des Professors, bei dem sie studiert, nach den Titeln der Bücher, die sie zu lesen hat, und so weiter. Claire überhört geflissentlich die Beleidigung, die in diesen Fragen steckt. Sie gehe aufs Cal Berkeley, sagt sie. Ihr Professor sei Norbert Steinhaus, das Seminar heiße ‹‹Von Descartes zu Kant: Grundlagen der modernen philosophischen Forschung ››.
Ich verspreche, ganz leise zu sein, sagt Claire. Ich bringe meine Sachen in ein anderes Zimmer; Sie werden gar nicht merken, dass ich hier bin.
Martin sind die Argumente ausgegangen. Na schön, gibt er widerstrebend nach, ich gehe Ihnen aus dem Weg, Sie gehen mir aus dem Weg. Abgemacht?
Abgemacht. Sie geben sich die Hand darauf, und als Martin aus dem Zimmer stapft, um mit der Arbeit an seiner Geschichte anzufangen, schwenkt die Kamera herum und fährt langsam auf Claires Gesicht zu. Die Aufnahme ist bezwingend in ihrer Schlichtheit: Zum ersten Mal sehen wir Claire in Ruhe, und durch die geduldige und fließende Bewegung der Kamera entsteht der Eindruck, dass
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