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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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kleiner optischer Überraschungen. Normalerweise würde man zu einer solchen Sequenz Musik erwarten, aber Hector verzichtet auf Instrumente und verlässt sich ganz auf natürliche Geräusche: das Knarren der Bettfedern, Martins Schritte auf dem Kachelboden, das Rascheln der Papiertüte. Die Kamera richtet sich auf die Zeiger einer Uhr, und bei den letzten Worten des einleitenden Monologs (Ich wollte einfach nur hier sein und nichts tun, das Leben eines Steins führen) wird das Bild langsam unscharf. Es folgt Schweigen. Ein paar Sekunden lang scheint es, als habe alles angehalten - die Stimme, die Geräusche, die Bilder -, und dann wechselt der Schauplatz ganz abrupt nach draußen ins Freie. Martin geht durch den Garten. Der Totalen schließt sich eine Nahaufnahme an: Martins Gesicht. Dann wird schleppend und ausführlich die Umgebung gezeigt: Bäume und Sträucher, der Himmel, eine Krähe, die sich auf dem Ast einer Pappel niederlässt. Als die Kamera ihn wieder findet, hockt Martin am Boden und beobachtet eine Ameisenprozession. Wir hören den Wind in den Bäumen -ein lang gezogenes Rauschen wie das Tosen der Meeresbrandung. Martin blickt auf, hebt schützend die Hände über die Augen, und wieder führt uns ein Schnitt in einen anderen Teil der Landschaft: Wir sehen einen Felsen, über den eine Eidechse kriecht. Die Kamera schwenkt eine Handbreit hoch, und am oberen Bildrand schwebt eine Wolke über dem Felsen. Aber wie konnte ich das ahnen?, sagt Martin. Ein paar Stunden Stille, ein paar Züge Wüstenluft, und mit einem Mal ging mir die Idee für eine Geschichte durch den Kopf. So scheint es mit Geschichten immer zu gehen. Erst ist nichts. Und plötzlich ist etwas da und lauert in dir.
    Die Kamera zieht von einer Nahaufnahme von Martins Gesicht zu einer Totalen der Bäume auf. Wieder pfeift der Wind, und als die Blätter und Zweige unter der Attacke zu zittern beginnen, steigert sich das Rauschen zu einem pulsierenden, atemartigen Wogen, einem hohlen, rhythmischen Heulen. Die Einstellung dauert drei oder vier Sekunden länger, als wir erwarten. Die Wirkung dieser Szene ist seltsam ätherisch, doch gerade als wir uns fragen wollen, was dieses eigenartige Beharren zu bedeuten haben könnte, werden wir jäh ins Haus zurückversetzt. Ein harter, abrupter Schnitt. Martin sitzt an einem Tisch in einem der oberen Zimmer und hämmert auf einer Schreibmaschine herum. Wir hören die Tasten klappern und sehen ihn aus verschiedenen Blickwinkeln und Entfernungen an seiner Geschichte arbeiten. Es sollte kein langer Text werden, sagt er. Fünfundzwanzig oder dreißig Seiten, höchstens vierzig. Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich dafür brauchen würde, beschloss aber, im Haus zu bleiben, bis ich damit fertig wäre. Das war der neue Plan. Ich würde die Geschichte schreiben, und ich würde erst gehen, wenn ich sie fertig hätte.
    Das Bild wird schwarz. Als es weitergeht, ist es morgens. Wir sehen Martins Gesicht von ganz nahe, er schläft, sein Kopf ruht auf dem Kissen. Die Sonne scheint durch die Fensterläden, und während er die Augen aufschlägt und sich aus dem Schlaf ringt, zieht die Kamera auf und zeigt uns etwas, das nicht wahr sein kann, das gegen die Regeln der Vernunft verstößt. Martin hat die Nacht nicht allein verbracht. Neben ihm im Bett schläft eine Frau, und als die Kamera weiter ins Zimmer zurückfährt, sehen wir sie unter der Bettdecke, zusammengerollt auf der Seite, Martin zugewandt - ihr linker Arm liegt lässig auf seiner Brust, ihre langen dunklen Haare fließen bis über sein Kissen. Als Martin allmählich aus seiner Betäubung auftaucht, bemerkt er den nackten Arm auf seiner Brust, dann erkennt er, dass der Arm zu einem Körper gehört, und nun fährt er senkrecht hoch und macht ein Gesicht wie jemand, dem man einen Elektroschock verpasst hat.
    Von der plötzlichen Bewegung durchgerüttelt, stöhnt die junge Frau, vergräbt das Gesicht im Kopfkissen und macht schließlich die Augen auf. Zunächst scheint sie Martin nicht zu bemerken. Noch benommen, noch auf dem mühsamen Rückweg ins Bewusstsein, wälzt sie sich auf den Rücken und gähnt. Als sie die Arme ausstreckt, streift sie mit der rechten Hand Martins Körper. Ein, zwei Sekunden lang geschieht nichts, dann stützt sie sich sehr langsam auf, starrt in Martins verwirrtes, entsetztes Gesicht und kreischt auf. Fast im selben Augenblick schleudert sie die Decke weg, springt aus dem Bett und rennt in einer Mischung aus wilder Panik und Verlegenheit

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