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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Gläubiger zu befriedigen, und eine garantierte
    Leibrente, die ihm jährlich bis ans Ende seines Lebens ausgezahlt werden sollte. Die Sache war genial ausgedacht. Nur ergab sich das Problem, dass Chateaubriand gar nicht ans Sterben dachte. Als die Gesellschaft gegründet wurde, war er Mitte sechzig, und er hielt durch bis achtzig. Inzwischen hatten die Anteilsscheine mehrmals die Besitzer gewechselt, und die Freunde und Bewunderer, die anfangs darin investiert hatten, waren längst gestorben. Chateaubriand gehörte wildfremden Leuten. Deren einziges Interesse war der Profit, und je länger er lebte, desto sehnlicher wünschten sie seinen Tod herbei. Diese letzten Jahre müssen furchtbar für ihn gewesen sein. Ein gebrechlicher alter Mann, vom Rheuma gelähmt, Madame Recamier nahezu erblindet, alle seine Freunde im Grab. Aber er hat bis zum Ende an dem Manuskript gearbeitet.
    Reizende Geschichte.
    Nicht besonders komisch, möchte ich meinen. Aber eins steht fest: Der alte Vicomte konnte verdammt gute S ätze bauen. Das ist ein unglaubliches Buch, Alex.
    Du willst also sagen, es macht dir nichts aus, die nächsten zwei oder drei Jahre deines Lebens mit einem trübsinnigen Franzosen hinzubringen?
    Ich habe gerade ein Jahr mit einem Stummfilmkomiker hinter mir, und etwas Abwechslung kann ich jetzt gut brauchen.
    Stummfilm? Davon weiß ich ja noch gar nichts.
    Da ging es um einen gewissen Hector Mann. Ich habe im Herbst ein Buch über ihn abgeschlossen.
    Du bist also fleißig gewesen. Gut so.
    Ich musste irgendetwas tun. Also habe ich mich dazu entschlossen.
    Warum habe ich von diesem Schauspieler noch nie ge-hört? Nicht dass ich mich überhaupt mit Filmen auskenne, aber der Name sagt mir gar nichts.
    Er ist vollkommen unbekannt. Er ist mein Privatkomiker, ein Hofnarr, der seine Spaße nur für mich allein treibt. Zwölf, dreizehn Monate lang war er Tag und Nacht an meiner Seite.
    Du warst tatsächlich mit ihm zusammen? Oder ist das nur so eine Redensart?
    Niemand hat Hector Mann seit 1929 gesehen. Er ist tot. So tot wie Chateaubriand und Madame Recamier. So tot wie Dexter, wie heißt er noch?
    Feinbaum.
    So tot wie Dexter Feinbaum.
    Du hast dir also ein Jahr lang alte Filme angesehen.
    Nicht ganz. Ich habe mir drei Monate lang alte Filme angesehen, und dann habe ich mich in ein Zimmer eingeschlossen und neun Monate lang darüber geschrieben. Das Seltsamste, was ich jemals getan habe. Über Dinge zu schreiben, die ich nicht mehr sehen konnte, und sie so darzustellen, dass sie optisch präsent wurden. Das Ganze war wie eine Halluzination.
    Und was ist mit den Lebenden, David? Beschäftigst du dich auch mit denen?
    So wenig wie möglich.
    Das habe ich mir gedacht.
    Voriges Jahr hatte ich in Washington ein Gespräch mit einem Mann namens Singh. Dr. J. M. Singh. Ein bemerkenswerter Mensch, mit dem ich mich sehr gern unterhalten habe. Er hat mir sehr geholfen.
    Und gehst du jetzt regelmäßig zum Arzt?
    Wozu denn? Unsere Plauderei hier ist die längste Unterhaltung, die ich seitdem mit irgendwem geführt habe.
    Du hättest mich anrufen sollen, als du in New York warst.
    Ich konnte nicht.
    David, du bist nicht mal vierzig. Das Leben ist noch nicht vorbei.
    Na ja, nächsten Monat werde ich vierzig. Am fünfzehnten veranstalte ich eine Riesenfete im Madison Square Garden, und ich hoffe, du und Barbara könnt euch dafür freimachen. Es überrascht mich, dass ihr die Einladung noch nicht erhalten habt.
    Wir machen uns Sorgen um dich, das ist alles. Ich will mich ja nicht einmischen, aber wenn jemand, den man gern hat, sich so benimmt, fällt es schwer, dem einfach tatenlos zuzusehen. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas für dich tun.
    Das hast du doch getan. Du hast mir einen neuen Job angeboten, und dafür bin ich dir dankbar.
    Da geht es um Arbeit. Ich rede jetzt aber vom Leben.
    Gibt"s da einen Unterschied?
    Du bist ein ganz schön sturer Hund, weißt du das?
    Erzähl mir von diesem Dexter Feinbaum. Der Mann ist schließlich mein Wohltäter, und ich weiß noch überhaupt nichts von ihm.
    Du willst also nicht darüber reden?
    Wie unser alter Freund Bartleby bei Melville zu sagen pflegte: Lieber nicht.
    Niemand kann ohne andere Menschen leben, David. Das ist völlig unmöglich.
    Mag sein. Aber es hat auch noch niemand in meiner Haut gesteckt. Vielleicht bin ich der Erste.
    Aus der Einleitung zu den Erinnerungen eines Toten (Paris, 14. April 1848; revidiert am 28. Juli):
    Da es mir unmöglich ist, den Zeitpunkt meines Todes

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