Das Buch der Illusionen
vorauszusehen, da die Tage, die einem Menschen meines Alters zugemessen sind, nur eine Gnaden- oder besser Galgenfrist bedeuten, drängt es mich, einige Worte der Erklärung abzugeben.
Am 4. September werde ich achtundsiebzig Jahre alt. Es ist hohe Zeit für mich, eine Welt zu verlassen, die mich nun ebenfalls rasch verlässt, und ich empfinde kein Bedauern... Traurige Notwendigkeit, die mir zeitlebens den Fuß auf die Kehle gesetzt hat, zwingt mich, meine Erinnerungen zu verkaufen. Niemand kann sich vorstellen, was ich gelitten habe, als ich gezwungen war, mein Grabmal zu versetzen, und doch bin ich dieses letzte Opfer meinem feierlichen Versprechen und der Beständigkeit meines Verhaltens schuldig gewesen... Ursprünglich habe ich sie Madame Chateaubriand vermachen wollen. Sie hätte sie der Welt übergeben oder sie zurückhalten können, ganz nach ihrem Gutdünken. Heute bin ich fester überzeugt denn je, dass letztere Lösung vorzuziehen gewesen wäre...
Diese Erinnerungen wurden zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern niedergeschrieben. Aus diesem Grund ergab sich für mich die Notwendigkeit, Prologe hinzuzufügen, in denen die Orte, die mir vor Augen standen, wie auch die Gefühle geschildert werden, die mein Herz erfüllten, als ich den Faden meiner Erzählung jeweils wieder aufnahm. Auf diese Weise kommt es zu einer Vermischung der einander abwechselnden Phasen meines Lebens. In Zeiten des Wohlstands widerfuhr es mir mitunter, dass ich von Zeiten der Entbehrung zu erzählen hatte; desgleichen hatte ich mich in Tagen der Not auf solche des Glücks zu besinnen. Der Übergang von der Jugend zum Alter, die Gesetztheit meiner späteren Jahre, welche die Jahre meiner Unschuld mit Trauer einfärbten, die Strahlen meiner Sonne, die sich vom Augenblick ihres Aufgangs bis zu dem ihres Untergangs überkreuzten und ineinanderflössen - all dies hat eine gewisse Verwirrung oder, wenn man so will, so etwas wie eine unergründliche Einheit in meine Darstellungen gebracht. Meine Wiege erinnert an mein Grab, mein Grab an meine Wiege; meine Leiden werden zu Freuden, meine Freuden zu Leiden; und jetzt, da ich die Durchsicht dieser Erinnerungen abgeschlossen habe, bin ich mir nicht mehr sicher, ob sie das Produkt eines jugendlichen Geistes oder das eines vom Alter ergrauten Kopfes darstellen. Ich kann nicht wissen, ob dies Gemisch dem Leser angenehm oder unangenehm sein wird. Abhelfen kann ich dem nicht. Es ist das Ergebnis meines wechselhaften Geschicks, der Unbeständigkeit meines Glücks. Sein stürmisches Walten hat mir als Schreibunterlage nicht selten nur noch den Felsen gewährt, auf dem ich gestrandet war. Man hat mich gedrängt, Teile dieser Erinnerungen schon zu meinen Lebzeiten herauszugeben, aber ich ziehe es vor, aus der Tiefe meines Grabes zu sprechen. So werden Stimmen meinen Bericht begleiten, die, weil sie aus der Totengruft kommen, das Gepräge des Heiligen haben. Wenn ich in dieser Welt genug gelitten habe, um in der nächsten zu einem glücklichen Schatten zu werden, wird ein Lichtstrahl von den elysischen Feldern sich schützend auf diese meine letzten Bilder legen. Das Leben lastet schwer auf mir; vielleicht bekommt der Tod mir besser.
Diese Erinnerungen sind für mich von besonderer Bedeutung. Dem heiligen Bonaventura wurde gestattet, sein Buch weiterzuschreiben, nachdem er gestorben war. Ich kann auf eine solche Gunst nicht hoffen, zum Allermindesten aber wünschte ich mir, zu irgendeiner mitternächtlichen Stunde auferstehen zu dürfen, um die Fahnenabzüge korrigieren zu können...
Wenn irgendein Teil meiner Mühen mich mehr befriedigt hat als alle anderen, dann ist es der, der sich auf meine Jugend bezieht - der verborgenste Winkel meines Lebens. Dort musste ich eine Welt aufs Neue zum Leben erwecken, die niemand kennt als ich allein, und ich bin auf meinen Streifzügen durch dieses entschwundene Reich nur Schweigen und Erinnerungen begegnet. Wie viele von all den Menschen, die ich gekannt habe, sind heute noch am Leben? ... Sollte ich außerhalb Frankreichs sterben, bitte ich darum, meinen Leichnam erst fünfzig Jahre nach der ersten Beisetzung in mein Heimatland zu überführen. Der Frevel einer Leichenöffnung bleibe meinen Überresten erspart; niemand soll in meinem leblosen Gehirn und meinem erloschenen Herzen nach dem Mysterium meines Wesens forschen. Der Tod offenbart die Geheimnisse des Lebens nicht. Die Vorstellung, einen Leichnam mit der Post zu verschicken, erfüllt mich
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