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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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mit Entsetzen, aber trockene, vermoderte Knochen lassen sich leicht transportieren. Sie werden auf dieser letzten Reise weniger müde sein als zu der Zeit, da ich sie auf dieser Erde umhergeschleppt habe, niedergedrückt von der Last meiner Sorgen.
    Ich begann die Übersetzung gleich am Morgen nach meinem Gespräch mit Alex. Das war mir möglich, weil ich das Buch besaß (die zweibändige Pleiade-Ausgabe, herausgegeben von Levaillant und Moulinier, mit Lesarten, Anmerkungen und mehreren Anhängen) und es noch drei Tage, bevor Alex" Brief gekommen war, in der Hand gehabt hatte. Am Anfang dieser Woche war ich mit dem Aufbau meiner neuen Bücherregale fertig geworden. Täglich mehrere Stunden lang hatte ich Bücher ausgepackt und einsortiert, und irgendwann im Verlauf dieser langwierigen Operation war ich auf Chateaubriand gestoßen. Ich hatte seit Jahren nicht mehr in die Mémoires hineingesehen, aber an diesem Morgen in Vermont, im Chaos meines Wohnzimmers, umgeben von Kisten und Türmen ungeordneter Bücher, hatte ich sie mal wieder aufgeschlagen. Als Erstes fiel mein Blick auf eine Passage in Band eins. Dort erzählt Chateaubriand, wie er im Juni 1789 einen bretonischen Dichter bei einem Ausflug nach Versailles begleitet. Das war keinen Monat vor dem Sturm auf die Bastille. Jedenfalls sehen sie dort im Schloss irgendwann Marie-Antoinette mit ihren zwei Kindern vorbeigehen. Sie gewährte mir, indem sie mir einen lächelnden Blick zuwarf, den gleichen anmutigen Gruß, den sie mir schon am Tage meiner Vorstellung gewährt hatte. Ich werde diesen Blick, der so bald erlöschen sollte, niemals vergessen. In diesem Lächeln Marie-Antoinettes trat die Form des Mundes so deutlich hervor, dass die Erinnerung an dieses Lächeln (welches Entsetzen!) mich den Unterkiefer dieser Tochter von Königen wieder erkennen ließ, als man bei den Exhumierungen im Jahre 1815 den Schädel der Unglücklichen aus der Erde hervorzog.
    Ein böses, atemberaubendes Bild, das mir noch lange durch den Kopf ging, nachdem ich das Buch zugeklappt und ins Regal gestellt hatte. Marie-Antoinettes abgeschlagener Kopf, hervorgezogen aus einem Massengrab. In drei kurzen Sätzen durchreist Chateaubriand sechsundzwanzig Jahre. Er bewegt sich vom Fleisch zum Knochen, vom prickelnden Leben zum anonymen Tod, und in dem Abgrund dazwischen liegen die Erfahrungen einer ganzen Generation, die unausgesprochenen Jahre des Schreckens, der Grausamkeit und des Wahnsinns. Die Passage hat mich umgeworfen, auf eine Weise berührt, wie mich seit anderthalb Jahren kein Text mehr berührt hatte. Und dann, nur drei Tage nach meiner zufälligen Begegnung mit diesen Sätzen, kam Alex" Brief mit der Anfrage, ob ich das Buch übersetzen möchte. War das Zufall? Natürlich war es das, aber damals kam es mir vor, als hätte ich es herbeigezwungen - als hätte Alex" Brief irgendwie einen Gedanken zu Ende geführt, den ich selbst nicht hatte zu Ende denken können. Ich war nie der Typ gewesen, der an solch mystisches Gewäsch geglaubt hatte. Aber wenn man so lebt, wie ich damals gelebt habe, ganz in sich selbst verkrochen und ohne jedes Interesse an seiner Umgebung, dann ändert sich die Perspektive. Denn Tatsache war, dass Alex" Brief auf Montag, den 9. datiert war und ich ihn am Donnerstag, dem 12. bekommen hatte, also drei Tage später. Folglich hatte ich das Buch in Vermont in der Hand gehalten, während er in New York mir von diesem Buch schrieb. Ich will auf der Bedeutung dieses Zusammenhangs nicht herumreiten, aber damals konnte ich das nur als Zeichen deuten. Es war, als ob ich, ohne es wissen, um etwas gebeten hätte und mein Wunsch dann plötzlich in Erfüllung gegangen wäre.
    Und so machte ich mich wieder an die Arbeit. Ich vergaß Hector Mann und dachte nur noch an Chateaubriand, grub mich in die gewaltige Chronik eines Lebens ein, das nichts mit meinem eigenen zu tun hatte. Genau das reizte mich an dieser Aufgabe so: die Distanz, die schiere Distanz zwischen mir und dem, was ich tat. Es hatte mir gut getan, für ein Jahr ins Amerika der zwanziger Jahre einzutauchen; noch besser tat es mir, meine Tage im Frankreich des acht-zehnten und neunzehnten Jahrhunderts zu verbringen. Der Schnee fiel auf meinen kleinen Berg in Vermont, aber ich achtete kaum darauf. Ich war in Saint-Malo und Paris, in Ohio und Florida, in England, Rom und Berlin. Ein Großteil der Arbeit war mechanisch, und da ich der Diener des Textes und nicht sein Autor war, musste ich eine andere Art von Energie

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