Das Buch der Illusionen
noch für einen zuverlässigen Freund. (Sein Kondolenzschreiben war ein Muster der Redekunst und Anteilnahme gewesen, der beste Brief, den ich überhaupt bekommen hatte.) Den neuen Brief begann er mit der Bitte um Entschuldigung, dass er sich nicht schon früher gemeldet habe. Er habe oft an mich gedacht, schrieb er, und gerüchteweise mitbekommen, dass ich in Hampton Urlaub genommen und einige Monate in New York gelebt habe. Er finde es schade, dass ich ihn nicht angerufen habe. Hätte er gewusst, dass ich dort war, hätte es ihm unendliche Freude bereitet, mich zu besuchen. Genau das waren seine Worte - unendliche Freude - , ein typischer Ausdruck für ihn. Jedenfalls, begann der nächste Absatz, habe die Columbia University Press ihn kürzlich gebeten, eine neue Buchreihe herauszugeben, die Bibliothek der Weltliteratur. Ein Mann mit dem kuriosen Namen Dexter Feinbaum, der 1927 sein Examen an der Columbia School of Engineering gemacht habe, habe ihnen viereinhalb Millionen Dollar hinterlassen, die zur Finanzierung dieser Sammlung verwendet werden sollten. Es gehe darum, die anerkannten Meisterwerke der Weltliteratur in einer einheitlich gestalteten Buchreihe zusammenzubringen. Aufgenommen werden solle alles von Meister Eckhart bis Fernando Pessoa, und überall da, wo die existierenden Übersetzungen für unzureichend erachtet würden, sollten neue in Auftrag gegeben werden. Das Unternehmen ist der reine Wahnsinn, schrieb Alex, aber man hat mich zum Cheflektor bestimmt, und trotz der vielen zusätzlichen Arbeit (ich komme kaum noch zum Schlafen) muss ich zugeben, dass mir die Sache Spaß macht. In seinem Testament hat Feinbaum eine Liste der ersten einhundert Titel aufgestellt, die er veröffentlicht haben möchte. Reich geworden ist er als Hersteller von Fassadenverkleidungen aus Aluminium, aber an seinem literarischen Geschmack kann man nichts aussetzen. Eins dieser Bücher war Chateaubriands Mémoires d'outre-tombe. Ich habe das verfluchte Ding mit seinen zweitausend Seiten noch nicht gelesen, erinnere mich aber an das, was du 1911 eines Abends irgendwo auf dem Campus in Yale zu mir gesagt hast - ich glaube, es war in der Nähe des kleinen Platzes vor Bieneke - , und deine Worte waren ungefähr diese: «Das hier», hast du gesagt (und den ersten Band der französischen Ausgabe hochgehalten und herumgeschwenkt), «ist die beste Autobiografie, die jemals geschrieben wurde.» Ich weiß nicht, ob du das immer noch so siehst, aber ich muss dir wahrscheinlich nicht sagen, dass dieses Werk seit seinem Erscheinen 1848 nur zweimal vollständig übersetzt wurde. 1849 und 1902. Es ist demnach höchste Zeit für eine Neuübersetzung, meinst du nicht auch? Ich habe keine Ahnung, ob du überhaupt noch Bücher übersetzen willst, aber falls ja, fände ich es schön, wenn du dieses für uns übernehmen würdest.
Ich hatte jetzt ein Telefon. Nicht dass ich hoffte, von irgendwem angerufen zu werden, aber es schien mir klug, für den Notfall eins anschließen zu lassen. Ich hatte da oben keine Nachbarn, und falls das Dach einstürzte oder das Haus in Brand geriet, wollte ich wenigstens telefonisch Hilfe holen können. Das war eins meiner wenigen Zugeständnisse an die Wirklichkeit, die widerwillige Anerkennung der Tatsache, dass ich nicht als einziger Mensch auf der Welt übrig geblieben war. Normalerweise hätte ich Alex brieflich geantwortet, aber zufällig hatte ich die Post an diesem Nachmittag in der Küche geöffnet; das Telefon stand keinen halben Meter von mir entfernt auf der Anrichte. Alex war vor kurzem umgezogen, und seine neue Adresse und Telefonnummer hatte er mir am Ende des Briefs aufgeschrieben. Die Versuchung, mir dies zunutze zu machen, war zu groß. Ich nahm den Hörer ab und wählte.
Viermal klingelte das Telefon am anderen Ende, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Unerwartet wurde die Nachricht von einem Kind gesprochen. Nach drei oder vier Worten erkannte ich die Stimme; es war Alex" Sohn. Jacob muss damals ungefähr zehn gewesen sein, er war etwa anderthalb Jahre älter als Todd - das heißt, anderthalb Jahre älter als Todd, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Der Junge sagte: Wir sind in der zweiten Hälfte des neunten Innings. Alle Bases sind besetzt, zwei Mann sind out. Es steht vier zu drei, mein Team ist am Verlieren, und ich bin am Schlag. Wenn ich einen Hit schaffe, gewinnen wir das Spiel. Der Werfer holt aus. Ich schlage. Es ist ein Groundball. Ich lasse den Schläger fallen und renne
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