Das Buch der Illusionen
aufbringen als die, die das Schreiben von Die stumme Welt mir abverlangt hatte. Übersetzen ist ein wenig mit Kohleschippen vergleichbar. Man schaufelt die Kohle auf und schleudert sie in den Ofen. Jedes Stück Kohle ist ein Wort, und jede Schaufelladung ist ein Satz, und wenn der Rücken stark genug ist und man die Ausdauer besitzt, das täglich acht oder zehn Stunden lang durchzuhalten, wird der Ofen nicht ausgehen. Ich hatte rund eine Million Wörter vor mir und war bereit, so lange und hart wie nötig daran zu arbeiten, selbst wenn es bedeutete, das ganze Haus niederzubrennen.
In diesem ersten Winter bin ich kaum vor die Tür gekommen. Alle zehn Tage fuhr ich zum Grand Union in Brattleboro und kaufte Lebensmittel ein, ansonsten aber erlaubte ich mir keine Unterbrechung meiner täglichen Arbeit. Brattleboro war nicht die nächstgelegene Ortschaft, aber ich nahm die zusätzlichen zwanzig Meilen Fahrt gern auf mich, um sicherzugehen, dass ich niemanden traf, den ich kannte. Meine Freunde in Hampton kauften gewöhnlich in einem anderen Grand Union nördlich des Colleges ein, und die Wahrscheinlichkeit, dass jemand von ihnen in Brattleboro auftauchte, war ziemlich gering. Das hieß aber nicht, dass es nicht doch passieren konnte, und trotz meiner vorsichtigen Strategie ging der Schuss tatsächlich nach hinten los. Eines Nachmittags im März, gerade als ich in Gang sechs Toilettenpapier in meinen Einkaufswagen packte, sah ich mich plötzlich Greg und Mary Tellefson gegenüber. Sie luden mich zum Essen ein, und obwohl ich mir alle Mühe gab, mich da herauszuwinden, jonglierte Mary so lange mit den Daten herum, bis mir keine Ausreden mehr einfallen wollten. Zwölf Tage später machte ich mich abends auf den Weg zu ihrem Haus am Rand des Campus von Hampton, weniger als eine Meile von dem Haus entfernt, in dem ich mit Helen und den Jungen gelebt hatte. Mit den beiden allein wäre die Sache nicht so eine Qual gewesen, aber Greg und Mary hatten es auf sich genommen, noch zwanzig andere Leute einzuladen, und auf eine solche Menschenansammlung war ich nicht vorbereitet. Natürlich waren sie alle freundlich zu mir, und die meisten von ihnen freuten sich bestimmt, mich zu sehen, aber ich fühlte mich unbehaglich, nicht in meinem Element, und immer wenn ich den Mund aufmachte und etwas sagte, war es das Falsche. Ich war mit dem Hamptoner Klatsch nicht mehr auf dem Laufenden. Und alle nahmen an, ich interessierte mich brennend für die neuesten Intrigen und Peinlichkeiten, Scheidungen und außerehelichen Affären, Beförderungen und Fakultätsstreitigkeiten. Tatsächlich aber fand ich das alles unerträglich langweilig. Kaum hatte ich mich einem Gespräch entzogen, fand ich mich in der Mitte einer anderen Gruppe wieder, die sich über etwas anderes, aber ganz Ähnliches unterhielt. Niemand war so taktlos, Helen zu erwähnen (für so etwas sind Akademiker zu höflich), und man beschränkte sich auf vermeintlich neutrale Themen: Neues aus den Nachrichten, Politik und Sport. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redeten. Seit einem Jahr hatte ich keine Zeitung mehr gelesen, und was mich anbelangte, hätten sie ebenso gut von Dingen reden können, die sich auf einem anderen Planeten zugetragen hatten.
Die Party begann damit, dass alle im Erdgeschoss umherwanderten, sich von einem Zimmer ins andere schoben, Gruppen bildeten, die nach wenigen Minuten auseinander gingen und sich in anderen Zimmern zu neuen Gruppen zusammenfanden. Ich ging vom Wohnzimmer ins Esszimmer, von der Küche ins Arbeitszimmer, und irgendwann fing Greg mich ab und drückte mir einen Scotch mit Soda in die Hand. Ich nahm das Glas, ohne nachzudenken, und da ich nervös und ängstlich war, kippte ich es in ungefähr vierundzwanzig Sekunden hinunter. Es war der erste Tropfen Alkohol seit über einem Jahr. Während meiner Recherchen zu Hector Mann war ich den Versuchungen mancher Hotel-Minibar erlegen, aber seit ich nach Brooklyn gezogen war und das Buch zu schreiben angefangen hatte, hatte ich dem Alkohol abgeschworen. Wenn nichts in der Nähe war, hatte ich kein sonderliches Verlangen nach dem Zeug, aber ich wusste, mich trennten nur wenige schwache Augenblicke davon, mir selbst ein übles Problem zu bereiten. Mein Verhalten nach dem Flugzeugabsturz hatte mir das deutlich gezeigt, und hätte ich mich damals nicht aufgerafft und Vermont verlassen, dann hätte ich wahrscheinlich nicht mehr lange genug gelebt, um noch an Gregs und Marys Party teilnehmen zu können - und
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