Das Buch der Illusionen
einzelgängerisches Leben weiterführen, ohne meiner Vergangenheit den Rücken zu kehren. Ich war noch nicht so weit, mich davon zu lösen. Das war erst anderthalb Jahre her, und meine Trauer sollte noch nicht aufhören. Ich brauchte nur ein anderes Projekt, an dem ich arbeiten konnte, einen neuen Ozean, in dem ich mich ertränken konnte.
Am Ende kaufte ich ein Haus in West T---- , etwa fünfundzwanzig Meilen südlich von Hampton. Das Haus war absurd niedrig gebaut, eine Art Skihütte aus Fertigbauteilen mit Teppichboden und elektrischem Kamin, so furchtbar hässlich, dass es fast schon wieder schön war. Es hatte weder Charme noch Charakter, keine liebevoll gearbeiteten Details, die einen zu dem Gedanken verführen konnten, man werde sich dort jemals heimisch fühlen. Es war eine Herberge für die lebenden Toten, eine Zwischenstation für psychisch Kranke, und wer in diesen nichts sagenden, unpersönlichen Räumen wohnte, konnte die Welt nur als eine Illusion betrachten, die Tag für Tag neu erfunden werden musste. Trotz aller Fehler der Architektur schienen mir die Dimensionen des Hauses jedoch ideal zu sein. Es war nicht so groß, dass man sich darin verloren vorkam, und nicht so klein, dass man sich beengt fühlte. Die Küche hatte Oberlichter in der Decke; das tiefer gelegte Wohnzimmer hatte ein Panoramafenster und freie Wände, die hoch genug waren, dass ich dort Regale für meine Bücher aufbauen konnte; von der Loggia aus sah man in das Wohnzimmer hinunter; und es gab drei identisch geschnittene Schlafzimmer: eins zum Schlafen, eins zum Arbeiten und eins zum Unterbringen der Dinge, die anzusehen mir der Mut fehlte, die ich aber auch nicht wegwerfen konnte. Das Haus besaß genau die richtige Größe und Form für jemanden, der allein leben wollte, und zusätzlich hatte es den Vorteil einer völlig abgeschiedenen Lage. Gelegen auf halber Höhe eines Berghangs, umgeben von einem dichten Wald aus Birken, Fichten und Ahornbäumen, war es nur über einen Feldweg erreichbar. Wenn ich niemanden sehen wollte, war das kein Problem. Und noch wichtiger, niemand würde mich sehen müssen.
Zu Beginn des Jahres 1987 zog ich dort ein und widmete mich zunächst einmal sechs Wochen lang praktischen Angelegenheiten: Regale bauen, einen Holzofen installieren, mein Auto verkaufen und dafür einen Pick-up mit Allradantrieb anschaffen. Bei Schnee war der Berg tückisch, und da es praktisch ununterbrochen schneite, brauchte ich einen Wagen, der mich hinauf- und hinunterbrachte, ohne dass jede Fahrt zu einem Abenteuer ausartete. Ich ließ Klempner und Elektriker kommen, die Wasser- und Stromleitungen reparierten; ich strich die Wände, legte mir einen Wintervorrat Klafterholz an und kaufte einen Computer, ein Radio und ein Faxgerät mit Telefon. Unterdessen machte Die stumme Welt des Hector Mann ihren Weg durch die verworrenen Kanäle der Universitätsverlage. Im Gegensatz zu anderen Büchern wird über Annahme oder Ablehnung eines Fachbuchs nie von einem einzigen Lektor im Verlag entschieden. Kopien des Manuskripts werden an verschiedene Spezialisten auf dem jeweiligen Gebiet verschickt, und solange diese Leute es nicht gelesen und ihr Gutachten eingesandt haben, tut sich gar nichts. Die Honorare für diese Arbeit sind kaum der Rede wert (bestenfalls ein paar hundert Dollar), und da es sich bei den Gutachtern meist um Professoren handelt, die mit Lehre und dem Abfassen eigener Bücher vollauf beschäftigt sind, zieht sich das Ganze oft sehr in die Länge. In meinem Fall wartete ich von Mitte November bis Ende März, bis endlich eine Antwort kam. Inzwischen hatte ich mich so sehr in andere Dinge vertieft, dass ich das Manuskript beinahe schon vergessen hatte. Natürlich war ich froh, dass man es nehmen wollte, froh, dass meine Mühe sich nun doch gelohnt hatte, aber ich kann nicht sagen, dass mir das viel bedeutet hätte. Für Hector Mann mochte es eine gute Nachricht sein, und auch für die Fans alter Filme und die Kenner schwarzer Schnurrbärte, aber ich selbst dachte kaum noch daran, nachdem die Sache einmal hinter mir lag. Und wenn ich doch gelegentlich daran dachte, kam es mir vor, als habe jemand anders dieses Buch geschrieben.
Mitte Februar bekam ich einen Brief von einem ehemaligen Kommilitonen, Alex Kronenberg, der inzwischen an der Columbia lehrte. Bei dem Gedenkgottesdienst für Helen und die Jungen hatte ich ihn das letzte Mal gesehen, und obwohl wir seitdem nicht mehr miteinander gesprochen hatten, hielt ich ihn immer
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