Das Buch der Illusionen
schon gar nicht, um mir die Frage zu stellen, warum zum Teufel ich überhaupt zurückgekommen war.
Als ich das Glas geleert hatte, ging ich zur Bar und schenkte mir nach, ließ aber diesmal das Sodawasser weg und nahm nur etwas Eis dazu. Beim dritten Scotch vergaß ich das Eis und kippte ihn pur.
Als es Zeit zum Essen war, bildeten sich Schlangen am Büfett, die Leute beluden ihre Teller und verteilten sich auf der Suche nach Sitzgelegenheiten im ganzen Haus. Ich landete auf dem Sofa im Arbeitszimmer, eingekeilt zwischen der Armlehne und Karin Müller, einer Lehrbeauftragten der germanistischen Fakultät. Meine Koordination war schon nicht mehr die beste, und als ich mich, einen Teller Salat und Rindergulasch auf den Knien balancierend, kurz umdrehte, um mein Glas hinter dem Sofa hervorzuholen (wo ich es, bevor ich mich setzte, abgestellt hatte), fiel es mir natürlich prompt aus der Hand. Ein vierstöckiger Johnnie Walker klatschte Karin in den Nacken, und einen Wimpernschlag später knallte ihr das Glas an die Wirbelsäule. Sie zuckte zusammen - was sollte man auch sonst erwarten? - und stieß dabei ihren eigenen, mit Gulasch und Salat beladenen Teller um, der wiederum nicht nur meinen Teller zu Boden beförderte, sondern auch noch verkehrt herum auf meinem Schoß landete.
Das war gewiss keine große Katastrophe, aber ich hatte schon zu viel getrunken, um das einzusehen; meine Hose war mit Olivenöl getränkt und mein Hemd mit Soße bekleckert, und ich beschloss, daran Anstoß zu nehmen. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, aber es war sicher eine grobe Beleidigung, irgendetwas völlig Unangemessenes. Blöde Kuh. Das war es wohl. Vielleicht auch dämliche Kuh, blöde, dämliche Kuh. Wie auch immer, meine Worte waren Ausdruck einer Wut, die man sich unter keinen Umständen jemals anhören lassen darf, am allerwenigsten, wenn ein ganzes Zimmer voller gereizter, nervöser Professoren mithören kann. Ich muss wohl nicht eigens hinzufügen, das Karin weder blöd noch dämlich war und einer Kuh ganz und gar nicht ähnlich sah: Sie war eine attraktive, schlanke Frau Ende dreißig, leitete Seminare über Goethe und Hölderlin und hatte mir nie etwas anderes als größten Respekt und Freundlichkeit entgegengebracht. Nur wenige Sekunden vor dem Zwischenfall hatte sie mich eingeladen, in einem ihrer Seminare einen Vortrag zu halten, und ich hatte mich gerade geräuspert, um ihr zu sagen, dass ich darüber nachdenken wolle, als mir dann das Glas aus der Hand fiel. Das war allein mein Fehler, und doch hatte ich mich sofort umgedreht und die Schuld ihr zugeschoben. Eine widerliche Entgleisung, und ein Beweis mehr dafür, dass ich noch nicht aus dem Käfig gelassen werden durfte. Karin hatte mir ein freundliches Angebot gemacht, hatte mir tatsächlich sogar vorsichtig, auf sehr feine Weise zu verstehen gegeben, dass sie für vertraulichere Gespräche über alle möglichen anderen Themen zur Verfügung stünde, und ich, der seit fast zwei Jahren keine Frau mehr angerührt hatte, hatte schon auf diese kaum merklichen Andeutungen reagiert und mir, roh und vulgär wie ein Mann, der zu viel Alkohol im Blut hat, ausgemalt, wie sie wohl ohne Kleider aussehen würde. Habe ich sie deswegen so böse angefahren? War mein Selbsthass so groß, dass ich sie bestrafen musste, weil sie einen Funken sexueller Erregung in mir geweckt hatte? Oder wusste ich insgeheim, dass sie nichts dergleichen tat und das ganze kleine Drama nur meine eigene Erfindung war, eine Anwandlung von Begierde, ausgelöst durch die Nähe ihres warmen, parfümierten Körpers? Noch schlimmer war, dass ich keinerlei Bedauern empfand, als sie zu weinen anfing. Inzwischen waren wir beide aufgestanden, und als ihre Unterlippe zu beben begann und ihre Augenwinkel sich mit Tränen füllten, hätte ich geradezu jubeln können über die Bestürzung, die ich ausgelöst hatte. Im Zimmer waren sechs oder sieben Leute, und nach Karins erstem Überraschungsschrei hatten sich alle nach uns umgedreht. Der Lärm der klappernden Teller hatte noch mehrere andere Gäste angelockt, die zur Tür hereinschauten, und so gab es mindestens ein Dutzend Zeugen, als ich meine abscheuliche Bemerkung machte. Plötzlich war alles still. Es war ein Augenblick kollektiven Schreckens, und fürs Erste wusste niemand, was er tun oder sagen sollte. In diesen atemlosen, verstörten Sekunden verwandelte sich Karins Schmerz in Wut.
Du hast kein Recht, so mit mir zu reden, David, sagte sie. Wofür hältst
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