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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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überkommen pflegen, wenn man alleine Auto fährt. Diesmal ging es, wenn ich mich recht erinnere, um die Quantifizierung unbedeutender Alltagshandlungen. Wie viel Zeit hatte ich in den vergangenen vierzig Jahren damit zugebracht, mir die Schuhe zu binden? Wie viele Türen hatte ich auf und zu gemacht? Wie oft hatte ich geniest? Wie viele Stunden hatte ich mit der Suche nach Gegenständen verloren, die ich nicht finden konnte? Wie oft hatte ich mir die Zehen oder den Kopf gestoßen oder etwas weggezwinkert, das mir ins Auge geraten war? Ich fand diese Beschäftigung durchaus angenehm, und während ich weiter durch die Dunkelheit platschte, fügte ich der Liste immer neue Punkte hinzu. Etwa zwanzig Meilen außerhalb von Brattleboro, auf einer freien Strecke zwischen den Ortschaften T---- und West T---- , nur drei Meilen vor der Abzweigung, die mich auf den Feldweg zu meinem Haus gebracht hätte, sah ich plötzlich im Scheinwerferlicht die Augen irgendeines Tieres aufleuchten. Ich wusste sofort, es war ein Hund. Zwanzig, dreißig Meter vor mir tapste dieses nasse, struppige Wesen durch die Nacht. Im Gegensatz zu anderen Hunden, die sich verlaufen haben, lief er nicht am Straßenrand entlang, sondern trabte genau in der Mitte - das heißt, etwas links von der Mitte, also praktisch genau auf meiner Fahrbahn. Ich machte einen Schwenk, um ihn nicht anzufahren, und stieg im selben Augenblick auf die Bremse. Das hätte ich wohl besser nicht getan, aber es war schon passiert, ehe ich mir sagen konnte, dass ich es lassen sollte. Jedenfalls war die Straße vom Regen nass und glitschig, und die Reifen begannen zu rutschen. Ich schleuderte über die gelbe Begrenzungslinie, und bevor ich gegensteuern konnte, krachte ich auch schon an einen Strommasten.
    Ich hatte zwar den Gurt angelegt, aber bei dem Aufprall knallte mein linker Arm ans Lenkrad, und natürlich flogen nun auch die ganzen Lebensmittel aus ihren Tüten, unter anderem eine Dose Tomatensaft, die mich am Kinn erwischte. Mein Gesicht tat höllisch weh, und mein Unterarm schmerzte wie verrückt, aber die Hand ließ sich noch bewegen, der Mund ging noch auf und zu, darum nahm ich an, dass ich mir nichts gebrochen hatte. Nun hätte ich erleichtert sein können, dankbar, dass ich ohne ernste Verletzungen davongekommen war, aber ich war nicht in der Stimmung, das Ausmaß meines Glücks zu berechnen und darüber zu spekulieren, wie viel schlimmer es hätte sein können. Es war schlimm genug, und ich haderte wütend mit mir, weil ich den Wagen kaputtgefahren hatte. Ein Scheinwerfer war zertrümmert, ein Kotflügel verbeult, die Kühlerhaube eingedrückt. Der Motor lief zwar noch, aber als ich zurücksetzen und weiterfahren wollte, stellte ich fest, dass die Vorderräder halb im Schlamm steckten. Zwanzig Minuten lang musste ich in Matsch und Regen schuften, bis ich das Ding da herausgeschoben hatte, und dann war ich so durchnässt und erschöpft, dass ich mir nicht mehr die Mühe machte, die Lebensmittel, die im ganzen Wagen herumgeflogen waren, wieder aufzusammeln. Ich setzte mich einfach ans Steuer, rangierte zurück auf die Straße und fuhr davon. Wie ich hinterher bemerkte, hatte ich während dieser letzten Etappe der Heimfahrt ein Päckchen tiefgefrorener Erbsen im Kreuz.
    Es war schon nach elf, als ich vor dem Haus parkte. Ich zitterte in meinen Kleidern, Unterkiefer und Arm taten weh, ich hatte schlechte Laune. Erwarte das Unerwartete, heißt es, aber ist das Unerwartete dann erst eingetreten, erwartet man natürlich nicht, dass es noch einmal eintreten wird. Ich hatte das Visier heruntergelassen, und da ich immer noch an den Hund und den Strommast dachte, immer noch über die Einzelheiten des Unfalls nachgrübelte, übersah ich, als ich aus dem Wagen stieg, das links vom Haus geparkte Auto. Meine Scheinwerfer hatten es nicht gestreift, und als ich den Motor abstellte und das Licht ausmachte, wurde es ohnehin stockfinster. Der Regen hatte nachgelassen, es nieselte nur noch. Im Haus war kein Licht, denn ich hatte ja angenommen, vor Sonnenuntergang zurück zu sein, und deshalb nicht einmal das Licht über der Eingangstür angelassen. Der Himmel war schwarz. Die Erde war schwarz. Gedächtnis und Gespür halfen mir, mich zum Haus zu tasten, aber sehen konnte ich nichts.
    In Süd-Vermont war es durchaus üblich, sein Haus nicht abzuschließen, aber daran hielt ich mich nicht. Ich verrammelte jedes Mal die Tür, wenn ich ausging. Ein Ritual, das ich stur befolgte, selbst wenn ich

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