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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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vorsichtshalber von der Tür, für den Fall, dass ich auf die Idee käme, meine Drohung wahr zu machen. Als sie sich wieder mir zuwandte, konnte ich nur ihre rechte Gesichtshälfte sehen. Jetzt wirkte sie ganz anders; sie hatte ein feines, rundliches Gesicht und eine sehr glatte Haut. Eigentlich nicht unattraktiv, beinahe hübsch sogar. Dunkelblaue Augen, aus denen eine wache, nervöse Klugheit leuchtete, die mich ein wenig an Helen erinnerte.
    Was Frieda Spelling zu sagen hat, interessiert mich nicht mehr, sagte ich. Sie hat mich zu lange hingehalten, und es hat mich viel Mühe gekostet, darüber hinwegzukommen. Ich will mich nicht noch einmal darauf einlassen. Zu viel Hoffnung. Zu viel Enttäuschung. Ich kann das nicht verkraften. Für mich ist die Geschichte vorbei.
    Bevor sie mir antworten konnte, schickte ich zum Abschluss meiner kleinen Predigt eine letzte aggressive Bemerkung hinterher. Ich werde jetzt ein Bad nehmen, sagte ich. Und wenn ich damit fertig bin, will ich Sie hier nicht mehr sehen. Bitte seien Sie so freundlich und schließen die Tür, wenn Sie gehen.
    Ich wandte ihr den Rücken zu und ging zur Treppe, fest entschlossen, sie fortan zu ignorieren und die ganze Sache ein für alle Mal hinter mir zu lassen. Als ich schon die Treppe hochstieg, hörte ich sie sagen: Sie haben ein so hervorragendes Buch geschrieben, Mr. Zimmer. Und deshalb haben Sie ein Recht darauf, die wahre Geschichte zu erfahren. Und ich brauche Ihre Hilfe. Wenn Sie mich nicht anhören, werden schreckliche Dinge geschehen. Hören Sie mir einfach nur fünf Minuten zu. Mehr will ich nicht von Ihnen.
    Melodramatischer hätte sie ihr Anliegen kaum vortragen können, aber ich dachte gar nicht daran, mich erweichen zu lassen. Oben angekommen, drehte ich mich um und sprach von der Loggia hinunter zu ihr. Ich gebe Ihnen nicht mal fünf Sekunden, sagte ich. Wenn Sie mit mir reden wollen, rufen Sie mich morgen an. Oder besser, schreiben Sie mir einen Brief. Am Telefon bin ich nicht so gut. Und ohne ihre Reaktion abzuwarten, verschwand ich ins Bad und schloss die Tür hinter mir ab.
    Ich blieb fünfzehn, zwanzig Minuten in der Wanne. Dazu noch drei, vier Minuten zum Abtrocknen, zwei Minuten vor dem Spiegel, wo ich mein Kinn untersuchte, und noch einmal sechs oder sieben, bis ich mir trockene Sachen angezogen hatte; insgesamt also rund eine halbe Stunde. Ich hatte es nicht eilig. Ich wusste, dass sie noch da sein würde, wenn ich wieder nach unten kam, und ich war immer noch miserabel gelaunt, kochend vor aufgestauter Streitlust und Feindseligkeit. Vor Alma Grund fürchtete ich mich nicht, aber meine Wut machte mir Angst, ich verstand gar nicht mehr, was in mir vorging. Seit meinem Ausbruch im Frühjahr auf der Party bei den Tellefsons hatte ich mich vollkommen zurückgezogen und mehr oder weniger verlernt, mit Fremden zu reden. Der einzige Mensch, mit dem ich noch zurechtkam, war ich selbst - aber wer war schon ich, ich lebte ja eigentlich gar nicht mehr. Ich war bloß jemand, der so tat, als ob er lebte, ein Toter, der seine Tage damit hinbrachte, das Buch eines Toten zu übersetzen.
    Sie begann sogleich mit einem Schwall von Entschuldigungen, als ich auf die Loggia hinaustrat, sah von unten zu mir herauf, bat um Verzeihung für ihre schlechten Manieren und bekannte sich zu ihrem Fehler, einfach so unangemeldet bei mir aufgetaucht zu sein. Sie schleiche sonst nicht bei Nacht um die Häuser fremder Leute, sagte sie, und sie habe mich nicht erschrecken wollen. Als sie um sechs an meine Tür geklopft habe, sei es noch hell gewesen. Sie habe irrtümlich angenommen, dass ich zu Hause sei, und sie habe dann nur deshalb stundenlang in meinem Garten gewartet, weil sie gemeint habe, dass ich jeden Augenblick zurückkommen würde.
    Als ich die Treppe hinunterstieg und ins Wohnzimmer ging, sah ich, dass sie sich die Haare gebürstet und neuen Lippenstift aufgelegt hatte. Sie wirkte jetzt konzentrierter - weniger zappelig, weniger befangen -, und als ich auf sie zuging und sie bat, sich zu setzen, spürte ich, dass sie nicht ganz so schwach oder verschüchtert war, wie ich vermutet hatte.
    Ich werde Ihnen erst zuhören, wenn Sie mir ein paar Fragen beantwortet haben, sagte ich. Wenn ich mit Ihren Antworten zufrieden bin, dürfen Sie reden. Wenn nicht, werde ich Sie bitten zu gehen. Dann will ich Sie nie wieder sehen. Verstanden?
    Wollen Sie ausführliche oder knappe Antworten?
    Knappe. So kurz wie möglich.
    Dann sagen Sie mir, wo ich anfangen soll. Ich

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