Das Buch der Illusionen
aber Tag um Tag verstrich, ohne dass Hector zurückkehrte, und damit erwies sich diese Theorie als ebenso falsch wie alle anderen. Jeder hatte eine Meinung zu dem, was Hector zugestoßen war, Tatsache aber war, dass niemand etwas wusste. Und falls doch jemand etwas wusste, schwieg er.
Der Fall war etwa anderthalb Monate lang in den Schlagzeilen, aber dann begann das Interesse nachzulassen. Es gab keine neuen Enthüllungen zu berichten, keine neuen Möglichkeiten zu erörtern, und schließlich wandte sich die Presse anderen Dingen zu. Gegen Ende des Frühjahrs brachte der Los Angeles Examiner den ersten von mehreren Artikeln, die in den folgenden zwei Jahren sporadisch erschienen und in denen jedes Mal berichtet wurde, Hector sei an irgendeinem unwahrscheinlichen, weit abgelegenen Ort von irgendwem gesehen worden - man sprach regelrecht von Hector-Sichtungen -, aber das waren nicht viel mehr als Kuriositäten, kleine Füllartikel am unteren Rand der Horoskopseite, Belustigungen für Hollywood-Experten. Hector als Gewerkschafter in Utica, New York. Hector mit seinem Wanderzirkus in der Pampa. Hector als Penner. Im März 1933 veröffentlichte Randall Simms, der Journalist, der Hector fünf Jahre zuvor für The Picturegoer interviewt hatte, einen Artikel in der Sonntagsbeilage des Herald Express unter der Überschrift: Was ist aus Hector Mann geworden? Das ließ auf neue Informationen zu dem Fall hoffen, doch abgesehen von Andeutungen über eine tragische, komplizierte Dreiecksgeschichte, in die Hector verwickelt oder auch nicht verwickelt gewesen sein könnte, war das Ganze im Wesentlichen ein Aufguss der Artikel, die 1929 in Los Angeles durch die Presse gegangen waren. Ein ähnliches Machwerk, verfasst von einer gewissen Dabney Strayhorn, erschien 1941 in der Zeitschrift Collier"s , und ein 1957 veröffentlichtes Buch mit dem reißerischen Titel Skandale und Geheimnisse von Hollywood, geschrieben von Frank C. Klebald, widmete Hectors Verschwinden ein kurzes Kapitel, das sich bei genauerer Betrachtung als nahezu wörtliches Plagiat des Strayhorn"schen Zeitschriftenartikels herausstellte. Im Lauf der Jahre mag noch mehr in Zeitschriften oder Büchern über Hector geschrieben worden sein, aber nichts davon ist mir bekannt geworden. Ich besaß nur, was ich in dieser Schachtel hatte, mehr hatte ich nicht auftreiben können.
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Zwei Wochen später hatte ich immer noch nichts von Frieda Spelling gehört. Ich hatte nächtliche Anrufe erwartet, Briefe per Eilboten, Telegramme und Faxe, verzweifelte Bitten, an Hectors Krankenlager zu eilen, aber nach vierzehn Tagen Schweigen gewannen meine Zweifel wieder die Oberhand. Meine Skepsis kehrte zurück, und nach und nach geriet ich wieder dahin, wo ich angefangen hatte. Der Karton wurde in den Schrank gestellt, und nachdem ich noch eine Woche oder etwas länger Trübsal geblasen hatte, holte ich meinen Chateaubriand hervor und stürzte mich in die Arbeit. Fast einen ganzen Monat war ich auf Abwegen gewesen, und obwohl einige Rückstände von Enttäuschung und Empörung übrig blieben, gelang es mir doch, mir den Gedanken an Tierra del Sueño aus dem Kopf zu schlagen. Hector war wieder tot. Er war 1929 gestorben, vielleicht aber auch erst vorgestern. Es spielte keine Rolle, welcher Tod der wirkliche war. Er weilte nicht mehr in dieser Welt, und ich würde keine Gelegenheit mehr haben, ihn kennen zu lernen.
Ich verkroch mich aufs Neue in mir selbst. Das Wetter war unbeständig, gute Phasen wechselten mit schlechten. Auf einen oder zwei strahlend helle Tage folgten heftige Gewitterstürme; gewaltige Wolkenbrüche, und wenig später kristallblauer Himmel; Wind und Windstille; Wärme und Kälte; Nebel und klare Luft. Auf meinem Berg war es immer fünf Grad kälter als unten in der Stadt, aber an manchen Nachmittagen konnte ich in kurzer Hose und T-Shirt spazieren gehen. An anderen Nachmittagen musste ich den Kamin anmachen und drei Pullover übereinander ziehen. Der Juni ging in den Juli über. Seit zehn Tagen war ich wieder fleißig, allmählich fand ich in den alten Rhythmus zurück und gelangte zu der Überzeugung, den Rest meiner Arbeit in einem Schwung erledigen zu können. Kurz nach dem Nationalfeiertagswochenende machte ich etwas früher Schluss als gewöhnlich und fuhr zum Einkaufen nach Brattleboro. Ich verbrachte etwa vierzig Minuten im Grand Union, und nachdem ich die Tüten im Auto verstaut hatte, beschloss ich, noch ein wenig zu bleiben und mir irgendeinen Film anzusehen.
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