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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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nur für fünf Minuten wegmusste. Als ich jetzt zum zweiten Mal an diesem Abend nach meinen Schlüsseln suchte, begriff ich, wie dumm diese Vorsicht gewesen war. Ich hatte mich praktisch aus meinem eigenen Haus ausgeschlossen. Ich hielt die Schlüssel bereits in der Hand, aber es hingen insgesamt sechs davon an der Kette, und ich hatte keine Ahnung, welcher der richtige war. Erst einmal tappte ich blind an der Tür herum, bis ich das Schloss gefunden hatte. Dann nahm ich aufs Geratewohl einen Schlüssel und bugsierte ihn hinein. Auf halbem Weg blieb er stecken. Also musste ich den nächsten ausprobieren, aber dazu galt es zunächst einmal, den ersten wieder herauszubekommen. Das erforderte wesentlich mehr Geschick, als ich vermutet hatte. Gerade als ich die letzte Kerbe aus dem Loch manövrieren wollte, ruckte der Schlüssel eine winziges bisschen, und die Kette fiel mir aus der Hand. Sie rasselte auf die Holztreppe und entglitt dann Gott weiß wohin in die Nacht. Damit endete die Fahrt genau so, wie sie begonnen hatte; leise fluchend suchte ich auf allen vieren nach unsichtbaren Schlüsseln.
    Ich war kaum ein paar Sekunden dabei, als im Garten plötzlich ein Licht anging. Ich sah auf, drehte den Kopf instinktiv nach der Lichtquelle, und noch ehe ich einen Schreck bekommen oder überhaupt registrieren konnte, was da los war, erblickte ich ein Auto - ein Auto, das auf meinem Grundstück nichts zu suchen hatte -, und diesem Auto entstieg eine Frau. Sie spannte einen großen roten Schirm auf, schlug die Tür hinter sich zu, und das Licht ging wieder aus. Brauchen Sie Hilfe?, sagte sie. Ich rappelte mich hoch, und in diesem Moment ging wieder ein Licht an. Die Frau leuchtete mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht.
    Wer zum Teufel sind Sie?, fragte ich.
    Sie kennen mich nicht, antwortete sie, aber Sie kennen die Person, die mich geschickt hat.
    Das reicht mir nicht. Sagen Sie mir, wer Sie sind, oder ich hole die Polizei.
    Mein Name ist Alma Grund. Ich warte hier schon seit über fünf Stunden. Mr. Zimmer, ich muss mit Ihnen reden.
    Und wer hat Sie geschickt?
    Frieda Spelling. Hector geht es sehr schlecht. Sie möchte, dass Sie das wissen, und ich soll Ihnen ausrichten, dass die Zeit jetzt sehr knapp wird.
    Mit Hilfe ihrer Taschenlampe fanden wir die Schlüssel, und als ich die Tür aufschloss und ins Haus trat, machte ich die Lampen im Wohnzimmer an. Alma Grund kam mir nach - eine kleine Frau, Mitte bis Ende dreißig. Blaue Seidenbluse und maßgeschneiderte graue Hose. Mittellange braune Haare, Stöckelschuhe, karmesinroter Lippenstift, eine große Handtasche aus Leder über der Schulter. Als sie ins Licht trat, sah ich das Muttermal auf ihrer linken Gesichtshälfte. Es war ein violetter Fleck von der Größe einer Männerfaust, lang und breit genug, dass er an die Karte eines Phantasielandes erinnerte: eine kompakte Verfärbung, die mehr als die Hälfte ihrer Wange bedeckte und sich vom Augenwinkel bis zur Kinnlade hinunterzog. Sie trug die Haare so geschnitten, dass sie das Mal zum größten Teil verbargen, und hielt den Kopf ein wenig schief, damit die Haare an Ort und Stelle blieben. Diese leicht verkrampfte Haltung schien ihr offenbar in Fleisch und Blut übergegangen, eine Angewohnheit, die ein Leben in Befangenheit ihr aufgezwungen haben musste. Das gab ihrer Erscheinung etwas Unbeholfenes und Verletzliches; sie wirkte wie ein schüchternes Mädchen, das lieber zu Boden als seinem Gegenüber in die Augen sah.
    An jedem anderen Abend wäre ich wahrscheinlich bereit gewesen, mit ihr zu reden - aber nicht an diesem. Ich war zu wütend, zu fertig von dem, was bereits passiert war, und hatte nur den einen Wunsch, mich aus meinen nassen Kleidern zu schälen, ein heißes Bad zu nehmen und ins Bett zu gehen. Ich hatte, nachdem ich das Licht im Wohnzimmer angemacht hatte, die Tür hinter mir zugeworfen. Nun klinkte ich sie wieder auf und bat sie höflich zu gehen.
    Bitte nur fünf Minuten, sagte sie. Ich kann alles erklären.
    Ich mag es nicht, wenn Leute ungefragt mein Grundstück betreten, sagte ich, und ich mag es nicht, wenn Leute mitten in der Nacht über mich herfallen. Sie wollen doch nicht, dass ich Sie rausschmeiße, oder?
    Jetzt hob sie den Blick und sah mich an - überrascht von meiner Heftigkeit, leicht verängstigt von dem Zorn, der in meiner Stimme mitschwang. Ich denke, Sie wollen Hector besuchen, sagte sie, und mit diesen Worten trat sie ein paar Schritte weiter ins Haus hinein, entfernte sich

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