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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Ich kann nicht erklären, woher dieses Wissen kam, aber ob es nun Vorahnung oder außersinnliche Wahrnehmung war, was da auf einmal von mir Besitz ergriff, als ich diesen Ausdruck in ihren Augen sah, jedenfalls wusste ich, dass sie eine Schusswaffe in ihrer Handtasche hatte, und ich wusste, dass sie in den nächsten drei oder vier Sekunden mit der rechten Hand hineingreifen und sie herausnehmen würde.
    Das war einer der grandiosesten, erheiterndsten Augenblicke meines Lebens. Ich stand einen halben Schritt außerhalb der Realität, ein paar Zoll jenseits der Grenzen meines Körpers, und als die Sache genau so geschah, wie ich es mir gedacht hatte, hatte ich ein Gefühl, als sei meine Haut durchsichtig geworden. Ich nahm keinen Raum mehr ein, sondern zerschmolz darin. Was um mich war, war auch in mir; ich brauchte nur in mich hineinzusehen, um die ganze Welt zu erkennen.
    Sie hielt die Waffe in der Hand. Es war ein kleiner versilberter Revolver mit Perlmuttgriff, gerade halb so groß wie die Spielzeugpistole, mit der ich als Kind gespielt hatte. Als sie sich zu mir umdrehte und den Arm hob, sah ich, dass die Hand am Ende dieses Arms zitterte.
    Ich hab so was noch nie getan, sagte sie. Sagen Sie mir, ich soll das Ding wegpacken, und ich tu 's. Aber wir müssen jetzt los.
    Es war das erste Mal in meinem Leben, dass jemand eine Waffe auf mich richtete, und ich staunte, wie gelassen ich blieb, wie selbstverständlich ich die möglichen Konsequenzen akzeptierte. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort, und ich konnte sterben, einfach so. Diese Vorstellung hätte mir Angst machen, hätte Fluchtgedanken in mir auslösen müssen, aber von alldem spürte ich nichts, nichts drängte mich, den Lauf der Dinge aufzuhalten. Etwas ungeheuer und furchtbar Schönes hatte sich vor mir aufgetan, und ich verspürte nur den einen Wunsch, ewig so stehen zu bleiben und dieser Frau mit dem seltsamen Doppelgesicht in die Augen zu schauen, während über uns der Regen mit einem Lärm wie von zehntausend Trommeln die Teufel der Nacht aufscheuchte.
    Schießen Sie nur, sagte ich. Sie tun mir damit einen großen Gefallen.
    Die Worte kamen mir aus dem Mund, noch ehe ich wusste, dass ich sie sagen würde. Sie klangen mir grell und erschreckend in den Ohren, wie etwas, das nur ein Geistesgestörter sagen konnte, doch als ich sie erst einmal gehört hatte, war mir klar, dass ich nicht die Absicht hatte, sie zurückzunehmen. Sie gefielen mir. Ich erfreute mich an ihrer Grobheit, an ihrer Offenheit, an der entschlossenen, sachlichen Art, mit der sie dem Dilemma, in dem ich steckte, zu Leibe rückten. Und dennoch, obwohl mir diese Worte so viel Mut machten, weiß ich bis heute nicht, wie sie gemeint waren. Habe ich sie wirklich aufgefordert, mich zu töten, oder habe ich nur versucht, sie zur Vernunft zu bringen, um nicht getötet zu werden? Habe ich wirklich gewollt, dass sie abdrückt, oder habe ich versucht, sie dazu zu bewegen, die Waffe sinken zu lassen? Ich habe mir diese Fragen in den vergangenen elf Jahren oft gestellt, aber bis heute noch keine schlüssige Antwort darauf gefunden. Mit Gewissheit weiß ich nur, dass ich keine Angst hatte. Als Alma Grund den Revolver zog und auf meine Brust richtete, empfand ich nicht Furcht, sondern Faszination. Ich begriff, dass die Kugeln in dieser Waffe einen Gedanken bargen, der mir noch nie gekommen war. Die Welt war voller Löcher, winziger sinnloser Öffnungen, mikroskopischer Spalten, in die der Geist eindringen konnte. War man erst einmal durch eins dieser Löcher gegangen, dann war man frei von sich selbst, frei von seinem Leben, frei von seinem Tod, frei von allem, was einem gehörte. In dieser Nacht war ich in meinem Wohnzimmer auf eins dieser Löcher gestoßen. Es erschien in Gestalt einer Waffe, und als ich mich jetzt im Innern dieser Waffe befand, war es mir gleichgültig, ob ich wieder herauskam oder nicht. Ich stand vollkommen ruhig neben mir und war vollkommen bereit zu akzeptieren, was immer der Augenblick zu bieten hatte. Gleichgültigkeit solcher Größenordnung ist etwas Seltenes, und da zu ihr nur jemand gelangen kann, der bereit ist, sich selbst loszulassen, gebietet sie Respekt. Sie flößt denen, die ihr begegnen, Ehrfurcht ein.
    Bis dahin kann ich mich an alles erinnern, an alles bis zu dem Augenblick, da ich diese Worte sagte, und noch ein wenig darüber hinaus; dann aber wird es ziemlich verschwommen. Ich weiß, dass ich sie angebrüllt habe, mir an die Brust geschlagen und sie

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