Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
herausgefordert habe, mich zu erschießen, aber ob ich das getan habe, bevor sie zu weinen anfing oder danach, ist mir aus dem Gedächtnis verschwunden. Ebenso wenig weiß ich noch, was sie gesagt hat. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass hauptsächlich ich selbst geredet habe, aber inzwischen stürzten mir die Worte so schnell aus dem Mund, dass ich kaum noch wusste, was ich sagte. Wichtig ist vor allem, dass sie Angst hatte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ich den Spie ß umdrehen würde, und als ich von der Waffe aufblickte und ihr wieder in die Augen sah, wusste ich, dass sie nicht den Mut hatte, mich umzubringen. Das war alles Bluff und kindliche Verzweiflung, und kaum tat ich einen Schritt auf sie zu, ließ sie die Waffe sinken. Ein merkwürdiger Ton entrang sich ihrer Kehle - ein gedämpfter, erstickter Luftstrom, ein undefinierbares Geräusch irgendwo zwischen Keuchen und Schluchzen -, und während ich sie weiter mit Hohn und Häme überschüttete und sie anschrie, sie solle die Sache endlich hinter sich bringen, wusste ich - und zwar mit absoluter Sicherheit und ohne den geringsten Zweifel -, dass die Waffe nicht geladen war. Auch hier behaupte ich nicht zu wissen, woher diese Gewissheit kam, aber ich brauchte nur zu sehen, wie sie den Arm sinken ließ, und schon wusste ich, dass mir nichts geschehen würde; und dafür wollte ich sie bestrafen, sie sollte dafür büßen, dass sie mir falsche Tatsachen vorspiegelte.
    Das alles war eine Sache von Sekunden, ein ganzes Leben, auf wenige Sekunden zusammengeschmolzen. Ich tat einen Schritt, und noch einen, und dann sprang ich sie an, verdrehte ihr den Arm und riss ihr die Waffe aus der Hand. Sie war nicht mehr der Engel des Todes, aber ich wusste jetzt, wie der Tod schmeckte, und im Wahnsinn der folgenden Sekunden tat ich das Wildeste und Verrückteste, was ich jemals getan habe. Nur um etwas klarzustellen. Nur um ihr zu zeigen, dass ich stärker war als sie. Ich nahm ihr die Waffe aus der Hand, trat ein paar Schritte zurück und hielt mir die Mündung an die Schläfe. Natürlich war die Waffe nicht geladen, aber sie wusste nicht, dass ich das wusste, und ich wollte mein Wissen ausnutzen, um sie zu demütigen, um ihr das Bild eines Mannes zu bieten, der keine Angst vor dem Sterben hatte. Sie hatte damit angefangen, und jetzt würde ich es zu Ende bringen. Inzwischen kreischte sie, das weiß ich noch, ich höre sie immer noch schreien und mich anflehen, es nicht zu tun, aber jetzt sollte mich nichts mehr aufhalten.
    Ich erwartete ein Klicken, und dann vielleicht ein kurzes hartes Echo aus der leeren Kammer. Ich legte den Finger um den Abzug, gewährte Alma Grund ein zweifellos groteskes und widerwärtiges Lächeln und drückte ab. O Gott, kreischte sie, o Gott, tun Sie das nicht. Ich drückte ab, aber der Abzug rührte sich kein bisschen. Ich versuchte es noch einmal, und wieder tat sich nichts. Ich vermutete, dass der Abzug klemmte, aber als ich die Waffe herunternahm und sie mir genauer ansah, erkannte ich endlich, was los war. Sie war noch gesichert. Sie war geladen, und sie war gesichert. Sie hatte vergessen, sie zu entsichern. Und hätte sie es nicht vergessen, dann hätte ich mir tatsächlich eine Kugel in den Kopf gejagt.
    Sie sank aufs Sofa, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Ich wusste nicht, wie lange das dauern würde, vermutete aber, wenn sie sich wieder gefasst hätte, würde sie aufstehen und verschwinden. Was hätte sie auch sonst tun können? Ich hatte mir ihretwegen beinahe das Hirn aus dem Schädel gepustet, und da sie unseren ekelhaften Psychokrieg verloren hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie den Mut aufbringen würde, noch ein einziges Wort zu mir zu sagen.
    Ich schob mir die Waffe in die Hosentasche. Sobald ich sie nicht mehr berührte, spürte ich, wie der Wahnsinn langsam meinen Körper verließ. Nur das Entsetzen blieb - wie ein heißes, fühlbares Nachglühen, die Erinnerung meiner rechten Hand an den Versuch, den Abzug zu drücken, das harte Metall an meinem Schädel. Dass jetzt kein Loch in diesem Schädel war, hatte ich allein meiner Dummheit und viel Glück zu verdanken, oder, genauer, dem Umstand, dass ausnahmsweise einmal mein Glück über meine Dummheit gesiegt hatte. Ich hätte mich um Haaresbreite umgebracht. Eine Reihe von Zufällen hatte mir das Leben genommen und dann wieder zurückgegeben, und in der Zeit dazwischen, in der winzigen Spanne zwischen diesen beiden Augenblicken, hatte es sich

Weitere Kostenlose Bücher